Grenzen der Religionsfreiheit – Freiheit in der Religion

von Eva Quistorp

Ein Sonderrecht, das die Religionsfreiheit absolut und über andere Grundrechte stellt, hat der Bundestag nach einer Anhörung zur Beschneidung von Babyjungen und Jungen zum Glück vermieden. Dazu haben die klaren Reden von Katja Dörner und Mehmet Kilic von den Grünen und von Abgeordneten der Linkspartei beigetragen. Sie haben die Grenzen der Religionsfreiheit an den Grundrechten von Kindern und Elternpflichten aufgezeigt, sich auf medizinische Gutachten bezogen, doch sie unterlagen im Bundestag. Mit guten Gründen nennt  Prof. Reinhard Merkel dieses Gesetz ein klägliches, so wie Necla Kelek vom beschnittenen Recht“ spricht und vor Türöffnern für  Dogmen und patriarchale Sittenwächter eines konservativen Islams warnt.
Die Religionsfreiheit, von den Müttern des Grundgesetzes zusammen mit dem Grundrecht auf  Frauengleichberechtigung und der Kunst-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit 1949 erstritten, gilt nicht absolut, so wie viele Moschee-Vereine es behaupten und dann der Ansicht sind, ein abstraktes Bekenntnis zum Grundgesetz erledige das Problem. Sie, die Religionsfreiheit, ist mit dem Grundrecht der Gleichberechtigung von Frauen, der Erweiterung des Grundgesetzes um gewaltfreie Erziehungsformen im Jahr  2000 und der Grundrechtecharta in Europa in Einklang zu bringen.
Neben Lob bin ich  im Internet angegriffen worden für meinen Beitrag im Perlentaucher-Dossier zur Beschneidungsdebatte, da ich nicht für ein schnelles Beschneidungsverbot war, aus Respekt gegenüber dem notwendigen Schutz jüdischer Kulturen in Deutschland, um Ruhe und Zeit für behutsame Reflexion und pragmatische Lösungen zu haben. Auf  Schmerzfreiheit und der Auflösung von Gruppenzwang habe ich vehement bestanden, was familiärer Druck gegenüber jungen Eltern,  Druck des Vaters auf die Mutter, die gerade geboren hat, Druck der Religionsgemeinschaft mit der Drohung von Ausschluss oder Missachtung sein kann. Die Gruppen in Israel, in den USA und hier, die das Beschneidungsritual ändern wollen, sollten von ihren Religionsgemeinschaften voll respektiert werden. Es ist eine Provokation des Gesetzgebers, dass aktuell ein orthodoxer Rabbi in Berlin die altpatriarchale Beschneidung ohne moderne Schmerzmittel vorgenommen hat.
Mir tut es weh, wenn das Problem der Beschneidung von Babyjungen hier im Blog schöngeredet und banalisiert wird als „nur Millimeter Haut“ oder berechtigtes Kindeswohl als okzidentale Überlegenheitspose in postkolonialen Modediskursen denunziert wird. Judith Butler ist nicht meine Lieblingsphilosophin, gebe ich zu. Mich interessiert, was Hannah Arendt geschrieben hätte zur Grundrechteabwägung in Zeiten der Revitalisierung vor allem sektiererischer, reaktionärer religiös- politischer Bewegungen, die alle durch das Internet globalisiert sind, so wie die hate speech und Bombenbauseiten. Es darf und muss um die Freiheiten, Rechte und Pflichten, auch von strikt säkularen Gruppen, von Kunst, Theater, Satire und Karikatur gestritten werden,wie gegen  Hexen- und Ketzerverfolgung, Kolonialismus, Repression im Kampf gegen die Übermacht der katholischen Kirche im Europa der Reformationen , der Aufklärung, der Pressefreiheit 1848 mit Heine, Büchner, Börne.

Ohne den Karneval, die Protestbewegungen der 68er Jahre, die Liberalisierung der Sexualität, der Scheidung, des Schwangerschaftsabbruchs, ohne Frauen- und Schwulenbewegungen, auch ohne freie Gewerkschaften und reformbereite Strömungen in den Kirchen wären unsere heutigen Freiheiten nie errungen worden. Die von außen oder von sich als „anders und fremd “ romantisierten Religionsformen beanspruchen diese Ausdrucksfreiheiten, wie es auch Feinde der Freiheit und der Frauen- oder Kinderrechte tun.
Vom Bund Gottes mit der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, mit den Töchtern Israels und im Islam ist kaum die Rede. Opferriten reichen bis in die Anfänge der Zivilisationen  zurück – deren Überwindung allerdings auch. Männlichkeitsinitiationsriten, patriarchale Gottes- und Menschenbilder möchte ich mit  jüdischen und islamischen Kolleginnen frei befragen können. Die feministische Theologie hat sich in den 70er Jahren  in christlichen Kirchen und einigen Synagogen und seit den 90ern auch stärker in islamischen communities entwickelt. Zumindest ihr gegenüber sollte Kermani nicht von einem Aufklärungsfundamentalismus reden, so wenig wie gegenüber vielen Formen der Religionskritik, die wir für lebendige Demokratien brauchen, also auch eine Islamkritik wie bei Lamya Kaddor, Seyran Ates, Abu Zaid, Fatima Mernissi, Sadik J.Al-AZm, Rushdie, Nawal Al Sadawi und vielen, jungen Frauen in  Nordafrika, die die Kraft des sogenannten arabischen Frühlings waren, der nun u.a. durch Salafisten und Muslimbürder in Eiszeiten gerät.
Der Freiheits- und Vernunftbegriff ist von globalen Finanzoligarchien wie Spaßgesellschaft,  Sexismus in der  Bewusstseinsindustrie, durch Embryonen- und Hirnforschung, Egoismen aller Arten ausgehöhlt worden. Auch daher nehmen Fundamentalismen und Sehnsucht nach Halt in uralten Traditionen der Religionen oder Weltanschauungen zu, die oft ihre eigenen Wurzeln nicht einmal kennen (Olivier Roy. Heilige Einfalt).
Der Wirrwarr im Denken, der life-style Zeitgeist des „anyhting goes“, überdecken eine klare Debatte zu Religion und Demokratie, zu den Schnittstellen von Religion-Geschlechter-Kulturpolitik, die wir gerade in enorm pluralen Gesellschaften brauchen, wo von Mehrheitsgesellschaft gar nicht mehr gesprochen werden kann, so wenig wie nur von Minderheitskollektiven. Für interkulturelles Zusammenleben, das ohne interreligiöses zu begrenzt ist, brauchen wir eine Sprache, die wir verstehen, Wissen und Ausdrucksformen der Selbstreflexion, ein historisch-kulturelles Gedächtnis, das wir teilen, statt einer Illusion von der Privatisierung oder Dominanz der Religion. Die sogenannte Wissensgesellschaft und Kreativwirtschaft geht mit ziemlich viel Ignoranz gegenüber der Religionsgeschichte, die auch Kulturgeschichte ist, einher und hält guten Religionsunterricht für unwichtig. Es sollten wie es schon Lessing und Mendelssohn vorschwebte, wie es Mahalia Jackson u.a. sangen, kreative Wechselbeziehungen gesucht werden, die Humor, Ironie und Satire einschließen zur gegenseitigen geistigen Erneuerung, zum sanften, doch auch notwendig schnellem Wandel von Traditionen für Rechtsstaaten, in denen Frauen gleichberechtigt sind und auch Kinder vor der Gewalterfahrung und blindem Gehorsam durch Religion oder kulturelle Sitten bewahrt werden, wozu der Kampf vor allem gegen die Genitalverstümmelung von Mädchen und Kindesmissbrauch, Frauen- und Kinderhandel und deren Versklavung gehören.

Eva Quistorp ist Mitgründerin der Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung der 70er Jahre, der Grünen, der Heinrich-Böll-Stiftung und von attac. Sie war Studentin der evangelischen Theologie bei Prof. Gollwitzer, der Germanistik bei Peter Szondi u.a. und hat Politologie bei Prof. Narr und Flechtheim an der FU Berlin studiert. Sie promovierte bei Dorothee Sölle und Gollwitzer zu „Der Beitrag der feministischen Theologie zu einer alternativen Weltethik“ (1980). Eva Quistorp ist Mitbegründerin der Frauen für Frieden und des Netzwerks feministischer Theologie, das über Europa hinausreicht, wie auch die Frauenökologiebewegung, sie war im Bundesvorstand der Grünen (1986-88) und Europaabgeordnete (1989-1994) und initiierte die Berliner Erklärung gegen den Irakkrieg  www.berlin-declaration.org.


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