Das beschnittene Recht

von Necla Kelek

Der Bundestag hat auf Initiative der Bundesregierung mit Mehrheit das „Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes“ beschlossen. Es wird fortan legal sein, was bisher undenkbar war, nämlich, dass das Grundrecht  auf Unverletzlichkeit der Person einem wie auch immer begründeten religiösen Ritual und dem „Kindeswohl“ geopfert wird. Religionsausübung ist nicht mehr ein Teil der durch die Verfassung garantierten Freiheit, sondern steht trotz aller gegenteiligen Behauptungen fortan über ihr. Das Kindeswohl wird als Verfügungsrecht über das Kind definiert. Das ist für mich das Ende eines Teil der aufgeklärten Zivilgesellschaft, denn religiöse Identität von Eltern wurde höher bewertet als die Unverletzlichkeit des wehrlosen Kindes.

Der FDP Abgeordnete Thomae formulierte, dass es nicht angehen könne, das jüdische Jungen durch eine nicht durchgeführte Beschneidung an der „kulturellen Identität seines eigenen Volkes nicht ganz und gar teilhaben kann“. Er meinte damit die jüdische Bevölkerung, für die dieses Gesetz gemacht wurde. Wenn in der Debatte über den Islam gesprochen wurde, dann immer nur im Zusammenhang mit der  „jüdischen und islamischen Tradition“ usw. Kein Wort über die muslimische Praxis, sechs- oder zehnjährige Jungen in einem Festsaal vor Hunderten von Zuschaueren und Zuschauerinnen den Penis zuzurichten.  Deshalb auch kein Wort zu den medizinischen und seelischen Risiken der Circumcision bei Jungen in der Vorpubertät. Die Begründungen für die Beschneidung von Jungen ist zum Beispiel in Ägypten ganz ähnlich wie die bei Mädchen. Dort sind 90% der Frauen genitalverstümmelt.

Wer die Schilderung der Immunologin Shereen El Feki in ihrem Buch „Sex und die Zitadelle“ über die Praxis der Genitalverstümmelung bei Mädchen in Ägypten liest, trifft auf die Argumente für weibliche Beschneidung –  wie  die kulturelle Identität , religiöser Tradition und gesellschaftlichem Druck –  im Bundestag für die Jungen akzeptiert, bei Mädchen aber als Verbrechen geächtet werden. Was Religion ist und wie sie praktiziert wird, liegt nach Auffassung unseres Parlaments in der Hoheit der Religionsgemeinschaften. Wenn von den Islamverbänden behauptet wird, Beschneidungen muslimischer Jungen würden in Deutschland nur mit Einwilligung der Kinder und ausschließlich von Ärzten und Ärztinnen durchgeführt, entspricht dies nicht der Wahrheit. Die Jungen werden nicht gefragt und die Beschneidung wird oft nicht von ÄrztInnen, sondern von aus der Türkei eingeflogenen sünnetcis, eine Art Friseur mit medizinischer Zusatzausbildung, durchgeführt.

Der Historiker Michael Wolffsohn hat angemerkt, dass es für eine Religion in einer modernen aufgeklärten Gesellschaft andere Formen der Aufnahme, Identitätsfindung und des Ritus geben sollte. Schließlich habe man es auch geschafft, das Menschenopfer und im Judentum auch das Tieropfer in symbolische Akte zu überführen, ohne Schaden zu nehmen. Einige Juden und Jüdinnen praktizieren selbst  bereits die „Brit Shalom“, die symbolische Form der Beschneidung. Der von der Bundeskanzlerin in diesem Zusammenhang gebrauchte Satz  “Religiöses Leben in Deutschland muß möglich bleiben“, weist in die Vergangenheit und  wird seine fatale Wirkung erst nach dem Beschluss des Bundestages entfalten, d.h. im Klartext letztlich auch für die Akzeptanz der muslimischen Apartheit von Frauen, weil dies zum religiösen Leben, zu deren Bedingungen gehört.

Mit welcher Begründung will man zukünftig das Tragen des Kopftuches an Schulen und Behörden untersagen, wie sich zu Fragen des Schächtens oder der Polygamie verhalten, wenn diese Auffassung die neue Vorgabe ist? Die Grube, in die die Politik mit dieser Argumentation fallen wird, hat sie mit diesem Gesetz selbst ausgehoben.  Die Hilfsverben des Rechts, wie sie von der Bundeskanzlerin, ihrer Justizministerin und Politikern und Politikerinnen aller Parteien angeführt werden, werden ihre  Wirkung entfalten. Aber vielleicht ist gerade diese postsäkulare Wende ja gewollt, vielleicht will man über den Hebel der Stärkung des religiösen Lebens der Gesellschaft wieder so etwas wie Mores lehren. Der CSU-Abgeordnete Norbert Geis beschwor in der Debatte gar einen rechtsfreien Raum für Eltern und sein Fraktionskollege Singhammer freute sich bereits über die Rückkehr der Religion. Vielleicht – und das scheint mir eher der Fall – ist diese  praktische Toleranz  um des lieben Frieden willens ja alles, was man noch aufbringt. Man weiß selbst nicht mehr, was man will und legt sich deshalb weder mit den jüdischen noch mit den muslimischen Funktionären, nicht mit Israel und der islamischen Welt an. Außerdem stehen Wahlen vor der Tür und Themen wie Religion und Integration sind nun mal keine Wahlkampfschlager.  Durch die Fraktionen wurde beschlossen, dass Beschneidungen „rechtgemäß“, also vom Grundgesetzt gedeckt sind.  Niemand wolle, wie der Grüne Volker Beck sagte, das Eltern „vor den Kadi gestellt“ werden. Beck meinte sicherlich den Staatsanwalt und nicht den Kadi, den  islamischen  Scharia-Richter. Es geht tatsächlich nicht um Kriminalisierung, aber es gibt in der juristischen Methodologie feine Abstufungen dessen, wie ein gesellschaftlicher Konsens formuliert wird.  Eine Vereinbarung kann zum Beispiel rechtswidrig, muss aber nicht unbedingt strafbar sein und verfolgt werden. Man könnte auch etwas dulden, wie wir es aus der Debatte um die Abtreibung kennen. Eine solche Duldung von Beschneidung wäre eine Möglichkeit gewesen, die das vielzitierte Kindeswohl, die freie Ausübung von Religion und die Unverletzlichkeit der Person in der Waage gehalten hätte. Stattdessen hat man sich entschieden, dass, wenn Eltern oder ihre Religion es wollen, das Kind um Gottes willen die Vorhaut opfern muss.

Dr. Necla Kelek studierte Volkswirtschaft und Soziologie in Hamburg und Greifswald. Sie promovierte zum Thema „Islam im Alltag“. Mit ihrem Buch „Die verlorenen Söhne“ hat sie bereits 2006 eine Debatte um die Beschneidung von Jungen angestoßen.


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