Eltern dürfen Kindern keinen unabänderlichen Stempel aufdrücken

 von Katja Dörner

Die Beschneidung von Jungen ist ein heikles Thema. Nicht nur, weil es sich um eine jüdische Praxis handelt, die auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte mit höchster Sensibilität zu diskutieren ist. Maßgeblich ist zudem die Frage tangiert, wo das Recht von Eltern endet, Entscheidungen für ihre Kinder zu treffen, und wo Kinder selbst ein Mitspracherecht, wenn nicht sogar ein Selbstbestimmungsrecht haben bzw. haben sollten. Diese Frage lässt sich auf die religiöse Erziehung von Kindern anwenden. Sie lässt sich aber auch ganz allgemein auf die Erziehung von Kindern bzw. die elterliche Verantwortung gegenüber ihren Kindern anwenden – und macht damit ein ganz großes Fass in der gesellschaftlichen Debatte auf.

Um mit zwei weit verbreiteten Missverständnissen aufzuräumen: Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit von Kindern können nie durch die Religionsfreiheit der Eltern gerechtfertigt werden. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht klare Entscheidungen gefällt. Vor diesem Hintergrund hat der Bundestag mit seinem am 12. Dezember 2012 beschlossenem „Gesetz über den Umfang der Personensorge bei der Beschneidung des männlichen Kindes“ auch nicht die religiös motivierte Beschneidung von Knaben (unter bestimmten Bedingungen) für zulässig erklärt. Er hat es grundsätzlich ins Ermessen der Eltern gestellt, ihre Söhne auch ohne Vorliegen einer medizinischen Indikation beschneiden zu lassen – die Gründe der Eltern für diese Entscheidung sind nicht relevant. Insofern stellt sich im Zusammenhang mit dem Gesetz nicht die Frage nach dem Recht der Eltern darauf, ihre Kinder religiös zu erziehen, sondern allein, ob die Entscheidung für eine Beschneidung von der Personensorge abgedeckt bzw. mit dem Kindeswohl vereinbar ist.

Eltern haben Rechte – Kinder auch

In Deutschland gibt es keine „Lufthoheit über den Kinderbetten“ – zum Glück. In Artikel 6 Abs. 2 des Grundgesetzes ist vielmehr das Grundrecht der Eltern auf wie auch deren Pflicht zur Pflege und Erziehung ihres Kindes verankert. Das Pflege- und Erziehungsrecht ist aber kein eigennütziges Recht der Eltern, sondern ein fremdnütziges Recht im Interesse des Kindes. Es dient nicht den Belangen und Interessen der Eltern, sondern der Entwicklung des Kindes. Der Staat hat dementsprechend ein Wächteramt inne. Seine Möglichkeit, die Elternrechte einzuschränken, besteht nur, wenn die Eltern ihrer Pflicht nicht nachkommen, wenn sie nicht im Sinne des Kindeswohls agieren. Ich halte dieses verfassungsrechtlich normierte Verhältnis von Elternrechten und staatlichen Eingriffsmöglichkeiten für ausgesprochen vernünftig. Aber wo bleiben die Kinder und deren Rechte? Zwar sind Kinder vom Tag ihrer Geburt an selbstverständlich Träger_innen der im Grundgesetz verankerten Grundrechte. Ausdrücklich erwähnt werden Kinder im Grundgesetz allerdings nur als Objekte ihrer Eltern. Solange Kinder ihre Grundrechte nicht selbstbestimmt ausüben können, obliegt es den Eltern, quasi treuhänderisch die Rechte ihrer Kinder wahrzunehmen. Sie haben also für ihr Kind dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf Religionsfreiheit zu wahren. Mit der Veranlassung bzw. der Zustimmung zu einer medizinisch nicht indizierten Beschneidung wahren Eltern diese Rechte meiner Meinung nach nicht.

Das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit darf nicht zur Disposition gestellt werden

 Vor diesem Hintergrund darf – aus dem Blickwinkel der Kinderrechte betrachtet – das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit nicht zur Disposition gestellt werden, auch nicht von ihren Eltern, weder aus religiösen noch aus anderen Gründen. Eine Beschneidung ist keine Bagatelle. Sie ist schmerzhaft, gerade auch im Heilungsprozess, und sie ist immer risikobehaftet. Jenseits der Frage der Komplikationen führt die Beschneidung zur unwiederbringlichen Entfernung eines Körperteils, der durchaus wichtige Funktionen hat. Eine Beschneidung kann negative Folgen für die Psyche und auch die Sexualität haben. Die Tatsache, dass eine Beschneidung irreversibel ist, ist mit Blick auf die negative wie positive Religionsfreiheit des Kindes von besonderer Bedeutung. Eltern, als Treuhänder_innen der Rechte ihrer Kinder, dürfen keine irreversible Entscheidung fällen. Sie müssen vielmehr beachten, dass ihre Kinder mit Erreichen der Religionsmündigkeit ein anderes Bekenntnis wählen oder sich von jeder Religion abwenden.

Die Entscheidung der Eltern für eine Beschneidung greift in die körperliche und religiöse Selbstbestimmung des betroffenen Jungen auf Dauer ein. Hierzu haben Eltern aus meiner Sicht kein Recht. Der Gesetzgeber sollte daher deutlich machen, wo die Grenzen des Sorgerechts verlaufen. Deshalb habe ich – gemeinsam mit 67 Kolleginnen und Kollegen – im Herbst 2012 im Rahmen der Debatte um die Beschneidung im Deutschen Bundestag einen alternativen Gesetzentwurf zur Diskussion gestellt. Danach darf ein solcher Eingriff nicht ohne die Zustimmung des Jungen selbst erfolgen, der zudem mindestens vierzehn Jahre alt sein muss. Der Gesetzentwurf wurde im Deutschen Bundestag abgelehnt – ein schlechtes Zeichen für die Kinderrechte.

Nicht kindgerechte Erziehungsinhalte problematisieren

 Meine verfassungsrechtlichen Ausführungen zeigen, dass die Frage der Beschneidung von Jungen anders zu bewerten ist als andere Aspekte religiöser Erziehung wie bspw. die Abwertung von Mädchen im Islam und im Katholizismus oder die von Kindern abgelegte Beichte, die ich und viele andere als ebenfalls nicht kindgerecht bewerten. Eltern nehmen hier ihr Recht auf die religiöse Erziehung ihrer Kinder wahr, das ihnen nicht nur im Gesetz über die religiöse Kindererziehung, sondern auch in der Verfassung eingeräumt wird. Die genannten Aspekte religiöser Erziehung berühren zwar die Grundrechte der Kinder. Deren (körperliche und religiöse) Selbstbestimmungsrechte werden aber nicht auf Dauer verletzt. Nichtsdestotrotz erleben viele Menschen ihre religiöse Erziehung als prägend weit ins Erwachsenenalter hinein, viele von ihnen durchaus in einem negativen Sinne. Aber auch darüber hinaus: Viele Aspekte der Art und Weise wie sie erzogen worden sind, erleben Menschen als negative Prägung. Erziehungsmethoden und Erziehungsinhalte, die vom Kind als normal empfunden und nicht hinterfragt werden, werden von der erwachsenen Person sehr wohl als problematisch und negativ prägend bewertet. Und umgekehrt.

Die richtige Erziehung, religiöse wie ganz allgemein, ist gesellschaftlich umstritten und es ist richtig, dass der Staat in die Erziehung eines Kindes nur eingreift, wenn dessen körperliche, geistige und seelische Entwicklung gefährdet ist. Deshalb bedarf es aber umso dringlicher gesellschaftlicher Debatten, die problematische Erziehungsmethoden und Erziehungsinhalte, die nicht kindgerecht sind und sich nicht an den Rechten der Kinder orientieren, in den Fokus rücken mit dem Ziel, Veränderungen im Sinne der Kinder zu bewirken. Bester Beleg dafür, dass sich ein Wandel gesellschaftlicher Werte mit Blick auf die Erziehung von Kindern im Gesetz niederschlägt – und mit der Gesetzesänderung der Wertwandel weitergehend unterstützt wird – ist das „Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“.

Im Juli 2000 stärkte der Deutsche Bundestag mit dem „Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ die Rechte der Kinder. Im BGB wurde nicht nur das Recht auf gewaltfreie Erziehung verankert, sondern ausdrücklich benannt, dass „körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen“ unzulässig sind. Solche  Veränderungen werden nicht gegen die Eltern, sondern nur mit diesen gemeinsam zu bewerkstelligen sein. Der Staat soll zudem, insbesondere in seinen Institutionen wie Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen wie auch in der Jugendarbeit jungen Menschen freie Diskursräume anbieten, die zur Reflexion der eigenen Erziehung und Prägung durch das Elternhaus anregen und befördern. Denn Eltern sollen ihre Kinder erziehen, aber sie dürfen ihnen keinen unabänderlichen Stempel aufdrücken.

Katja Dörner, Jahrgang 1976, aus Bonn ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags, kinder- und familienpolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion sowie Mitglied im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags. Sie studierte Politikwissenschaften, Öffentliches Recht und Literaturwissenschaften in Bonn, York und Edinburgh, Magistra Artium 2000.


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