Bereits die Frage ist falsch gestellt

von Heinz-Jürgen Voß und Zülfukar Çetin

Seit Ende Juni 2012 wurde in der Bundesrepublik Deutschland „religiöse Vorhautbeschneidung“ breit thematisiert. Zuvor gab es in der BRD keine Beiträge zur Zirkumzision, die eine mediale Aufmerksamkeit erfahren hätten. Es existierten im deutschsprachigen Raum keine Selbstorganisationen von vorhautbeschnittenen Männern, die die Praxis problematisierten.

Aber selbst das berüchtigte Kölner Urteil, das oft als Initial der Diskussion benannt wird, war nicht direkter Auslöser. Es erging bereits am 7. Mai 2012, während die Debatte – stark verzögert – am 26. Juni 2012 einsetzte. Das hat Gründe – und die Diskussion wurde lanciert, wie der Journalist Jost Müller-Neuhof im Tagesspiegel nachwies (Müller-Neuhof 2012; vgl. ausführlich: Çetin/Voß/Wolter 2012). Schließlich gilt es noch festzuhalten, dass ein Urteil einer so niedrigen gerichtlichen Instanz sonst keine solche Aufmerksamkeit erfährt und es auch keine weitreichende Wirkung hat – ein Gericht in München oder Frankfurt könnte anders entscheiden.

Statt aber Fragen zu stellen, warum diese Debatte aufgekommen ist, welche Interessen darin eine Rolle spielen und warum sich selbst linke und emanzipatorische Menschen (erst) angestoßen durch das Urteil eines deutschen Gerichts engagieren, wird der Diskurs verlagert. Schon vor diesem Hintergrund erweist sich die Frage „Wie kann Beschneidung kritisch hinterfragt werden ohne in eine Abwehr des Anderen zu fallen?“ als falsch gestellt. Aber das ist sie auch auf andere Weise: Es wird bereits mit dieser Frage „das Andere“ konstruiert und ins Abseits gestellt. Das ist deshalb der Fall, weil die christlich und christlich-atheistisch geprägte Mehrheit, die die Vorhautbeschneidung nicht zur eigenen Tradition rechnet, über die existenziell wichtige Praxis der als „anders“ konstruierten Minderheiten urteilt. Historisch war genau diese Thematisierung der Zirkumzision im Abendland verschiedentlich an der Tagesordnung, insbesondere um jüdische religiöse Praxen unmöglich zu machen und Jüd_innen christlich zu missionieren (vgl. ausführlich: Heil/Kramer (Hg.) 2012).

Deutlich wurde in der deutschen Diskussion, dass die Positionen von Jüd_innen und Muslim_innen aber auch von atheistischen und agnostischen Menschen aus jüdischen und muslimischen Familien von der Mehrheit nicht gehört, sondern vielmehr niedergeschrien wurden. Weil sie sich für die Aufrechthaltung ihrer Lebensweise engagier(t)en, wurde Menschen aus muslimischen und jüdischen Familien von der weißen* Mehrheit Parteilichkeit unterstellt, anstatt dass ihnen bzgl. der Zirkumzision besondere Expertise zuerkannt worden wäre. Die Position der weißen Mehrheit wurde hingegen als vermeintlich „überparteiliche und objektive Außensicht“ dargestellt. Von ihr aus und mit ihren Maßstäben könnte die Tradition der Vorhautbeschneidung unvoreingenommen beurteilt werden.

Jessica Jacobi und Gotlinde Magiriba Lwanga zeigten in Debatten um den Rassismus und Nationalismus in der weißen deutschen Frauen-/Lesbenbewegung 1990 das Problem der Mehrheit auf: „Frauen wie Männer wissen fast nie, was das spezifisch Christliche ihrer säkularen Kultur ist, weil es als quasi-natürlicher Zustand, als Selbstverständlichkeit oder als die kulturelle Normalität schlechthin empfunden wird.“ (Jacobi/Magiriba Lwanga 1990: 97) Sie setzen mit Blick auf jüdische Lebensweise fort: „Eine sehr verbreitete Annahme ist die, Judentum sei nichts weiter als eine Religion. Und mit Religion hat die Mehrheit derer, die sich für antirassistisch halten, nichts zu tun. […] Christen und Nicht-mehr-Christen reden vom Glauben, wo doch sie es sind, die glauben oder eben nicht mehr glauben. Juden ‚wissen‘. Unserer Meinung nach gibt es in diesem Sinne keinen jüdischen ‚Glauben‘, genausowenig wie es eine jüdische ‚Rasse‘ gibt. Es gibt jedoch eine jüdische Lebensweise. Es gibt jüdisches Wissen und Sensibilität, die oft auch ohne Lebensweise und ohne Wissen durch Sozialisation erworben wird. Es gibt jüdische Geschichte und jüdische Kulturen, wovon Religion ein wesentlicher Bestandteil ist.“ (Jacobi/Magiriba Lwanga 1990: 97)

In der Debatte um die Vorhautbeschneidung wurde gerade das deutlich. Der Mehrheit, also der christlichen und christlich-atheistischen Mehrheit in der BRD, fehlt vollständig der Blick dafür, wie die eigene Position geworden ist und wie ihre Position damit einhergeht, dass über Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus Menschen mit anderen Perspektiven als „die Anderen“ konstruiert und aus der deutschen Gesellschaft ausgestoßen worden sind und ausgestoßen werden. Und der Mehrheit fehlt (bisher) auch das Interesse, sich mit den Lebensweisen von Minderheiten auseinanderzusetzen. Irene Runge benennt das Defizit: „In Berlin fehlen die Normalität und eine auch gleichgültige Kenntnisnahme des Anderen. Es gibt in der Mehrheitsbevölkerung kaum Erfahrungen, was ein Feiertag oder ein Ritual auf jüdisch, islamisch oder buddhistisch bedeuten kann. Nur langsam arbeitet sich die hiesige Medienwelt heran. In den USA sind Staat und Kirche strikt getrennt, aber in den politischen und sozialen Bewegungen, bei den Regierenden, in der ganzen Bevölkerung sind die Rituale anderer bekannt.“ (S. 82) In der Vorhautbeschneidungsdebatte wurde dieses Defizit krass sichtbar: Angehörige der christlichen und christlich-atheistischen Mehrheitsgesellschaft zeigten kaum Bereitschaft, die Positionen von Menschen aus jüdischen und muslimischen Familien nachzuvollziehen und die Situierung der eigenen Annahmen zu hinterfragen.

Eine Reflexion der eigenen weißen Position, ist gewiss schwierig, sie ist aber unabdingbar dafür, dass Debatten überhaupt möglich werden können, in denen nicht schon Rassismus und Antisemitismus vorangelegt sind. Ein Zugang gelingt über die benannten Bücher der Frauen und über die Arbeiten der Schwarzen* deutschen Frauenbewegung, anschließend an „Farbe bekennen“ (Oguntoye/Opitz/Schultz 1986) und aktuell „Euer Schweigen schützt euch nicht“ (Piesche (Hg.) 2012).

 

PS: Dass es keine medizinisch relevanten Bedenken gegen die Vorhautbeschneidung gibt, haben zahlreiche medizinische Fachgesellschaften deutlich gemacht. Populäre Vermutungen weißer Menschen, dass mit der Vorhautbeschneidung hohe Komplikationsraten, Traumatisierungen oder etwa eine erhöhte oder geringere Empfindlichkeit der Eichel einhergingen, werden durch die medizinische Fachliteratur widerlegt. Vgl. für einen Überblick: Çetin/Voß/Wolter 2012: S.51ff.

* weiß bezeichnet eine privilegierte Position. Weiße sind mit „einer Fülle von Privilegien geboren und aufgewachsen, die sie als dermaßen selbstverständlich empfinden, dass sie noch nicht mal wissen, dass sie existieren“ (Sow 2009: 42)

** Schwarz: „Schwarz zu sein ist nichts, was man wirklich ist, sondern steht eher für gemeinsame Erfahrungen, die man in der Gesellschaft gemacht hat. Weiße können daher nicht bestimmen, wer Schwarz ist und wer nicht. […] Schwarz heißt nicht gleich Migrant oder andersherum. Dass es auch nicht um ‚Fremdsein‘ geht, wird dadurch deutlich, dass Schwarze Deutsche von diesen Diskriminierungen ebenso betroffen sind.“ (Sow 2009: 26, 29)

 

Genannte Literatur:

Çetin, Zülfukar / Voß, Heinz-Jürgen / Wolter, Salih Alexander (Hg., 2012): Interventionen gegen die deutsche „Beschneidungsdebatte“. Münster: Assemblage.

Heil, Johannes / Kramer, Stephan J. (Hg.): Beschneidung: Das Zeichen des Bundes in der Kritik – zur Debatte um das Kölner Urteil. Berlin: Metropol.

Jacobi, Jessica / Magiriba Lwanga, Gotlinde (1990): Was „sie“ schon immer über Antisemitismus wissen wollte, aber nie zu denken wagte. In: Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für Frauen e.V. (Hg.): Geteilter Feminismus: Rassismus – Antisemitismus – Fremdenhaß (beiträge zur feministischen theorie und praxis, 27). Köln: Eigenverlag.

Müller-Neuhof, Jost (2012): Religiöse Beschneidung – Chronik einer beispiellosen Debatte. Online: http://www.tagesspiegel.de/politik/religioese-beschneidung-chronik-einer-beispiellosen-debatte/7018904.html (und zwei verlinkte folgende Seiten; Zugriff: 24.2.2013).

Oguntoye, Katharina / Opitz, May / Schultz, Dagmar (1997 [Erstaufl. 1986]): Farbe bekennen: Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Frankfurt/Main: Fischer.

Piesche, Peggy (Hg.): Euer Schweigen schützt euch nicht: Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland. Berlin: Orlanda Frauenverlag.

Runge, Irene (2012): Wie ich im jüdischen Manhattan zu meinem Berlin fand. oder Reisen Ankommen Leben. Berlin: Kulturmaschine.

Sow, Noah (2009): Deutschland Schwarz Weiß: Der alltägliche Rassismus. München: Goldmann.

Heinz-Jürgen Voß
Heinz-Jürgen Voß

Heinz-Jürgen Voß (Dr. phil., Dipl. Biol.) promovierte zur gesellschaftlichen Herstellung biologischen Geschlechts und forscht zu medizin- und biologieethischen und -geschichtlichen Schwerpunkten. Er ist antirassistisch, antifaschistisch und queer-feministisch politisch aktiv. Zuletzt veröffentlicht: Biologie & Homosexualität: Theorie und Anwendung im gesellschaftlichen Kontext (Münster 2013: Unrast). Kontakt: voss_heinz@yahoo.de / www.heinzjuergenvoss.de .

 

 

 

Zülfukar Çetin
Zülfukar Çetin

Zülfukar Çetin (Dr. phil.) hat zum Thema Homophobie und Islamophobie am Beispiel der binationalen schwulen Paaren in Berlin promoviert. Seine Schwerpunkte sind Intersektionalität, Heteronormativität, Rassismus und Kritische Migrationsforschung. Zurzeit arbeitet er als Antidiskriminierungsberater im Bundesland Brandenburg. Wichtige Veröffentlichung: Homophobie und Islamophobie: Intersektionale Diskriminierungen am Beispiel binationaler schwuler Paare in Berlin (Bielefeld 2012: Transcript). Kontakt: zuelfukar.cetin@yahoo.de


Posted

in

Tags: