Die Dritte Welle und die projektbasierte Polis

von Sonja Eismann

Das Urteil, das über die heutige Frauenbewegung am häufigsten zu hören ist, ist jenes, dass sie gar keine sei. Fürwahr: politisch wirksame, deutlich sichtbare Großaktionen, in denen Frauen mit den unterschiedlichsten sozialen Hintergründen für gemeinsame Ziele kämpfen und auf die Straße gehen, gibt es heute nicht mehr – auch wenn der gerade zum ersten Mal in Deutschland über die Bühne gegangene „Slutwalk“ ein erster zarter Vorbote eines solchen Revivals sein könnte. Dennoch: Vorbei die Zeiten der Zweiten Frauenbewegung in den 1960er und 70er Jahren, in denen Frauen klassenübergreifend und mit neu erwachtem kämpferischem Bewusstsein für ihre Rechte eintraten.

Ein Magazin-Cover wie das berühmte, von Alice Schwarzer nach französischem Vorbild initiierte Stern-Titelbild „Ich habe abgetrieben!“ aus dem Jahr 1971 wäre heute nicht mehr denkbar – stattdessen titelte Die ZEIT im Februar 2009 unter demselben Slogan mit der tränentreibenden Geschichte von Männern, deren Partnerinnen ohne ihr Wollen abgetrieben hätten. Doch nicht nur die medialen Gegenschläge und gesellschaftlichen Backlashes, die den Feminismus seit seinen Anfängen verlässlich begleiten, haben dazu geführt, dass es keine breite Basis von aktiven Frauenrechtlerinnen mehr gibt, sondern auch eine Vielzahl anderer Faktoren.

„Es ist doch alles erreicht“
Zum einen herrscht seit der rechtlichen De-Facto-Gleichstellung ein Klima des „Es ist doch alles erreicht“, das Frauen, die sich über geschlechtsspezifische Benachteiligungen beschweren, den Eindruck vermittelt, sie würden eigenes Versagen durch eine „Opferhaltung“ und „Jammerei“ kaschieren wollen. Frauen verdienen nach wie vor rund ein Viertel weniger als Männer? Dann sollen sie eben nicht Germanistik studieren oder den Beruf der Friseurin erlernen. Auch die Durchdringung aller Lebensbereiche mit neoliberalen, entsolidarisierten Prinzipien, die suggerieren, dass es jede/r für sich schaffen könne, wenn er oder sie nur wolle, unabhängig von Geschlecht, Klasse, Herkunft etc., erklären Diskriminierungen aufgrund eines dieser Faktoren als individualisiertes „Dann warst du eben nicht gut genug“, das nichts von strukturellen Ausschlüssen wissen will.

Zum anderen wurde der Frauenbewegung bekanntlich durch ihre Abwanderung in Institutionen aktivistischer Wind aus den Segeln genommen: wo heute Gender-Studies-Professorinnen an Universitäten unterrichten und Gender-Mainstreaming-Beauftragte in Ämtern und Gremien sitzen, ist der Ruch des Revolutionären auf-die-Straße-Gehens kaum mehr zu finden, sondern eher das kompromissbereite Ausloten von Optionen, das häufig Machtstrukturen reproduziert.

Bündnisse – Mehr Wahlmöglichkeiten, weniger Solidarisierungspotenzial?
Ein letzter Erklärungsansatz für das Fehlen von sichtbaren Bündnissen unter Frauen ist die Ausdifferenzierung von Lebensstilen, die zu (scheinbar) mehr Wahlmöglichkeiten und damit zu weniger Solidarisierungspotenzial geführt hat. Während zu Zeiten der „Zweiten Welle“ noch davon ausgegangen wurde, dass Frauen qua Geschlecht dazu bestimmt sind zu heiraten, Kinder zu bekommen und den Haushalt zu besorgen und genau gegen diese Zuschreibungen rebelliert wurde, steht es heute jeder Frau vermeintlich frei, stattdessen als kinderloser Single Karriere zu machen. Die an den Coolness-Codes der Popkultur geschulte Lifestyle-Orientierung sowie die Enttäuschung über die Arbeit politischer Parteien führt des Weiteren dazu, dass gerade unter jüngeren Frauen eine große Skepsis gegenüber klassisch organisierten Formen von Zusammenschlüssen herrscht. Zu uncool, zu unironisch, zu fern von ihren eigenen Lebensentwürfen erscheinen ihnen diese. Zudem sind die meisten jüngeren Menschen so sehr im Hamsterrad aus unbezahlten Praktika, Karriere-Networking, prekärem Lebensstil und Zukunftsängsten gefangen, dass für politische Aktivitäten schlicht keine Kapazitäten bleiben.

Die dritte Welle des Feminismus – eine sichtbare Chance?
Trotzdem gibt es natürlich auch weiterhin aktive Feministinnen, nur sehen ihre Anstrengungen und Zusammenschlüsse heute etwas anders aus – bzw. sie sind eben nicht mehr in klassischer Form für alle „sichtbar“. Viele jüngere Feminstinnen, die sich der sogenannten Dritten Welle zugehörig fühlen, sind in journalistischen, akademischen oder subkulturellen Zusammenhängen aktiv und wirken von dort aus in gewisser Weise als „aufklärerische Stimmen“. Viele finden sich dort vor dem Hintergrund geteilter (pop)kultureller Distinktions-Codes zusammen, die von außen schwer nachvollziehbar sind – so geschieht die Organisation von Ladyfesten, feministischen Sommerunis oder Frauen-Barcamps meist weitab von der Aufmerksamkeit bürgerlicher Medien, gleichwohl sie einen prägenden Einfluss auf feministische Debatten hat. Die Kunsttheoretikerin Isabelle Graw schrieb bereits 1995 über eine feministische Gemeinschaft des Lesens: „Ich bin z.B. über die Theorie zum Feminismus gekommen, habe mich der Masse des feministischen Gedankenguts in dem Moment (Ende der 80er Jahre) angenähert, als das intellektuelle Kapital über das aktivistische triumphierte. Vielleicht hing meine Begeisterung für feministische Theorien auch damit zusammen, dass ich mich außerhalb von akademischer Forschung befand. Jedenfalls besaßen die zirkulären Debatten unter (meist anglo-amerikanischen) feministischen Intellektuellen für mich eine große Attraktivität. Durch die Lektüre wurde es möglich, an eine feministische Gemeinschaft angeschlossen zu sein, die Shoshana Felman sehr treffend als Lesegemeinschaft (bond of reading) beschreibt.“

Projektbasierte Polis – ein neuer Geist des Kapitalismus?
Zwischen jüngeren Feministinnen gibt es zahllose Verknüpfungen und strategische Allianzen, die durch die Nutzung digitaler Medien wie Blogs oder schlicht durch E-Mail-Kontakte immens vereinfacht und beschleunigt wurden. Sie sind dadurch aber häufig nur temporär und führen nicht zu dauerhaften Zusammenschlüssen. Boltanski und Chiapello wiesen bereits in ihrem Standardwerk „Der neue Geist des Kapitalismus“ auf die Gefahren einer solchen Netzwerk-bezogenen, „projektbasierten Polis“ hin, in der das Sozialleben nur noch aus temporären, reaktivierbaren Kontakten bestehe, die ausschließlich zum Zweck gemeinsamer „Projekte“ zusammenfänden: „Das Netz weitet sich ständig aus, verändert sich unablässig. Es gibt folglich kein geeignetes Prinzip, um die Zahl der Personen zu benennen, zwischen denen eine Gerechtigkeitsrelation hergestellt werden kann. In einer Welt, die so konstruiert ist, dass sie der Netzlogik vollständig unterworfen ist, braucht die Gerechtigkeitsfrage gar nicht erst gestellt zu werden. Die Personen geringer Wertigkeit, die (…) in einem solchen Rahmen zu Recht als ausgeschlossen bezeichnet werden können, verschwinden gewöhnlich spurlos.“ Es fehlt nicht nur das Instrumentarium, mit dem Äquivalenzen hergestellt werden könnten, die für die Erstellung einer Gerechtigkeitsrelation unerlässlich sind. Vielmehr mangelt es zudem an einem räumlichen Nebeneinander, mit dem man durch einen einfachen Vergleich der Frage nachgehen könnte, ob zwischen der Not der einen und dem Glück der anderen ein Zusammenhang besteht.

Her mit der emanzipatorischen Haltung!
In diesem Lichte erscheint es mehr als sinnvoll, für breite, diversifizierte Bündnisse zu plädieren, die nicht zeitlich begrenzt sind oder der Erfüllung eines partikulären Zieles dienen, sondern die ganz allgemein eine profeministische, emanzipatorische Haltung als Grundlage haben. So ist für das Missy Magazine vor allem auch der Brückenschlag zwischen den verschiedenen feministischen Generationen, die medial immer auseinander dividiert werden sollen, ein wichtiges Element. Trotz allem muss die Bündniswilligkeit aber auch Grenzen haben: Geschlecht allein ist, der Queer Theory sei Dank, keine ausreichende Grundlage. Denn mit reaktionären politischen Bestrebungen, die auf einmal den Faktor Frau zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit entdeckt haben, sind keine emanzipatorischen Koalitionen zu haben.

 

Sonja Eismann ist Mitherausgeberin des Missy Magazine, freie Autorin und Kulturwissenschaftlerin. Sie lebt mit ihrem Partner und ihrer Tochter in Berlin.