Gewaltspiralen und die Gleichbehandlung der Geschlechter

von Dana Kühnau

Immer wieder hört man, dass weibliche und männlichen Beschneidung zwei völlig verschieden Sachen wären und daher rechtlich unterschiedlich zu bewerten seien.

Auch der Bundestag versucht gerade in einer halsbrecherischen rechtlichen Verdrehung die Beschneidung von Mädchen als barbarischen Akt primitiver Gesellschaften darzustellen, obwohl er noch vor wenigen Monaten die Beschneidung von Jungen offiziell zugelassen hat. Der Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 3 stellt sich dabei als lästige, vielleicht sogar unüberbrückbare Hürde heraus – selten war er einer tendenziösen Gesetzgebung so sehr im Weg wie im Fall der Zwangs-Beschneidung Minderjähriger.

Einige haben sich sehr bequem in der Vorstellung eingerichtet, dass Männer als Opfer nicht in Frage kommen, sondern gestehen diesen Status nur Frauen zu. Das mag für manche Gesellschaftsbereiche zutreffen, ist als absolute Setzung aber schlicht realitätsblind. Denn medizinisch, psychologisch und physiologisch lässt sich die Zweiteilung in „gute“ und „schlechte“ nichtbetäubte Amputationen an den Genitalien von Kindern nicht aufrechterhalten.

Die weibliche Beschneidung gibt es nämlich in vielen verschiedenen Ausprägungen, abhängig von der jeweiligen Tradition. Bei der leichtesten Form werden die weiblichen Genitalien nur angeritzt, schwere Formen bestehen aus dem Wegschneiden von Klitorisvorhaut, Klitoris und/oder Schamlippen, und bei den extremen Formen werden die  Mädchen quasi zugenäht.[1]

Die männliche Beschneidung ist da im mittleren bis unteren Bereich einzuordnen, weil mit der Vorhaut ein den kleinen Schamlippen und der Klitorisvorhaut vergleichbares (und aus dem gleichen genetischen „Material” entstandenes) Gewebe entfernt wird. Auch bei den Jungen muss jedoch differenziert werden zwischen einer „radikalen Beschneidung” (vollständige Entfernung der Vorhaut) und einer nur teilweisen Beschneidung. Außerdem spielt es für das spätere sexuelle Empfinden noch eine Rolle, ob dabei das Frenulumbändchen (ein hochsensibles Gewebe) nur beschädigt, herausgeschnitten oder halbwegs intakt gelassen wurde.[2]

Um eine Tatsache kommen wir jedoch nicht herum: die Vorhaut ist ebenso wie die kleinen Schamlippen bzw. die Klitorisvorhaut ein sehr dicht mit hochempfindsamen Nervenenden durchsetztes Gewebe und spielt daher für die sexuelle Empfindungsfähigkeit eine Rolle. Entfernt man sie, stehen nachher weniger Nervenenden zur Verfügung, mit denen man (sexuelle) Reize wahrnehmen kann. Bei Männern kommt noch hinzu, dass die Eichel – eigentlich ein „inneres Gewebe” wie die Zunge – nach der Beschneidung freigelegt ist, austrocknet und damit die sensible, feuchte Oberfläche einbüßt.

Diese operative Reduktion des erogenen Gewebes, wird von Männern (und auch von Frauen!) sehr unterschiedlich wahrgenommen. Das erklärt vielleicht, warum auch die betroffenen Frauen überwiegend nicht der Meinung sind, dass ihr Sexualempfinden geschädigt wurde. Es sind auch in aller Regel Frauen, die als Beschneiderinnen arbeiten und Mütter, die das bei ihren Töchtern veranlassen. In jedem Fall wäre es verkürzt, von „armen unterdrückten Frauen” auszugehen, „denen die bösen patriarchalen Männer den Spaß am Sex verderben wollen”. So einfach ist es nicht.

In allen Ländern, in denen Frauen beschnitten werden, ist auch eine männliche Beschneidung üblich.[3] In beiden Fällen geht es neben religiösen oder traditionellen Gründen auch um den Mythos von der „besseren Hygiene”[4] und der „besseren Ästhetik”. Die Väter stecken genauso wie die Mütter in Opfer-Täter-Spiralen, die sich seit Jahrhunderten von Generation zu Generation fortsetzen und immer dann wenn es um die Beschneidung geht, ihren Kindern die Empathie verweigern. Obwohl sie ihre Kinder lieben, hören sie auch dann nicht mit der Prozedur auf wenn das (in der Regel nicht betäubte) Kind weint oder um Hilfe schreit. Und wenn das Kind später selbst erwachsen ist, wird es seinen eigenen Kindern in aller Regel wieder in diesem einen Bereich kein Mitleid zeigen, da es sich sonst eingestehen müsste, dass auch ihm Unrecht angetan wurde. „Das kann nicht schlimm sein, denn meine Eltern hätten mir nie etwas Schlimmes angetan!” oder „Alle tun es, da kann es doch nicht falsch sein!“, ist die übliche Reaktion. Um sich selbst nicht als Opfer zu fühlen und um das ganze Ausmaß des jahrhundertelang praktizierten Unrechts nicht erkennen zu müssen, wird es den Brauch der Eltern weitergeben.

Die wenigsten der beschneidenden Eltern können sich diesem unbewusst wirkenden Mechanismus entziehen, denn er ist weitaus mächtiger als religiöse oder traditionelle Motivationen. Das zeigt sich schon allein daran, dass die Beschneidung eben gerade nicht auf besonders religiöse Eltern beschränkt ist, für die die Intaktheit und Schmerzfreiheit ihrer Kinder grundsätzlich aus religiösen Gründen zweitrangig ist. Im Gegenteil: Eltern aus unterschiedlichsten Kulturkreisen – mehr oder weniger religiös – praktizieren die Kinder-Beschneidung. Die Massenbeschneidungen von männlichen Neugeborenen in den USA und die verzweifelten Versuche – auch unter Missachtung jeglicher wissenschaftlicher Standards – doch noch einen medizinisch beweisbaren „Vorteil“ der Beschneidung aus dem Hut zu zaubern, sind ein eindrückliches Zeichen dafür. „Was wir immer schon so gemacht haben, kann und darf nicht falsch sein.“

Diese Gewalt-Spiralen, die sich meist nur auf diesen einzigen Lebensbereich beziehen, kommen nicht von alleine zum Stehen. Sie sind nur von außen zu unterbrechen, notfalls auch durch Gesetze oder staatliches Eingreifen.

Was hat denn den Protest gegen die weibliche Beschneidung ausgelöst? Ein einzelnes Buch einer einzelnen betroffenen Frau,[5] nicht Massenbewegungen betroffener Frauen. Es sind immer nur vereinzelte mutige Menschen, die sich trauen, das ihnen angetane Unrecht zu benennen und diesen Riss in ihrem Elternbild auszuhalten.

Sollen für die männliche Beschneidung völlig andere Regeln gelten? Verharmlosen wir bei denen die „Einzelfälle”, wenn betroffene Männer von Schmerzen, Traumata und teilweise erheblichen Einschränkungen ihres Sexuallebens berichten.[6] Wollen wir denen wirklich sagen: „Der Rest der Betroffenen hat kein Problem damit, deswegen könnt ihr auch keins haben – seid nicht solche Memmen!”. Waren wir nicht mal stolz auf unser neues Männerbild?[7] Wollen wir in diesem Fall wirklich mit zweierlei Maß messen, obwohl wir bisher für die Gleichberechtigung der Geschlechter gekämpft haben? Können wir uns überhaupt noch auf den Gleichheitsgrundsatz berufen, wenn wir selbst vormachen, dass er eben nicht universell ist, sondern nur gilt, wenn es grad opportun ist?

Wir haben hingesehen und hingehört als Waris Dirie von ihrem Schicksal berichtet hat. Wir haben gehandelt. Wir dürfen nun nicht die Ohren verschließen, nicht wegsehen, wenn andere von ihrem Leid berichten – auch wenn diese Betroffenen aus einer Richtung kommen, die wir bisher noch nicht auf dem Schirm hatten.


[1] Nach Angaben von Terre des Femmes macht die Infibulation (das Zunähen) ca. 15% der Fälle aus, siehe http://www.terre-des-femmes.de/.

[2] Eine nach der medizinischen Eingriffstiefe sortierte Skala kann man hier nachlesen: http://www.beschneidung-von-jungen.de/home/maennliche-beschneidung/maennliche-und-weibliche-beschneidung/zweierlei-mass-bei-jungen-und-maedchen.html.

[3] Siehe die weltweite Verbreitung in den Wikipedia-Artikeln „Zirkumzision“ und „weiblichen Genitalverstümmelung“.

[4] In Ägypten zum Beispiel wird seit kurzem wieder in großem Umfang als „Gesundheitsservice“ das Entfernen der Klitorisvorhaut praktiziert.

[5] Waris Dirie: Wüstenblume

[6] siehe z.B. hier: http://www.beschneidungsforum.de/index.php?page=Board&boardID=4&s=2ead3d2b7c490d87343074705c105ee8fac0f4af oder Meine Beschneidung von Riad Sattouf

[7] siehe „Grünes Männermanifest“ unter http://blog.gruene-nrw.de/2010/04/09/maennermanifest/

Dana Kühnau hat Musiktheater-Dramaturgie studiert und ist zur Zeit Doktorandin der Musiktheaterwissenschaft an der Uni Detmold/Paderborn. Daneben arbeitet sie u.a. an der Bayerischen Staatsoper und als Dozentin für Theorie und Praxis des Kulturmanagements an der LMU München. Ihr politisches Interesse gilt vor allem der Kulturpolitik. Bei den Bayerischen Grünen war sie langjährige Sprecherin des Landesarbeitskreises Kultur. In der Kulturpolitischen Gesellschaft ist sie Mitglied im Bayerischen Sprecherrat und Mitorganisatorin der kulturpolitischen Tagungen in Tutzing.


Posted

in

Tags: