Lasst euch nicht versimplifizieren: Beobachtungen zum Diskurs um religiöse Beschneidung

von Laura Kajetzke

Das Kölner Urteil im Mai 2012, das religiös motivierte Beschneidung als einfache Körperverletzung wertete, kam scheinbar aus dem Nichts. Zuvor war in der Öffentlichkeit keine Rede von einem sich formierenden Protest, auch beklagte sich keine nennenswerte Zahl von „Betroffenen“ über das Einbüßen ihrer Vorhaut und infolgedessen den potentiellen Verlust (sexueller, sozialer, religiöser) Möglichkeiten. Keinesfalls handelt es sich also um den vor Gericht erstrittenen Erfolg eines volljährigen Mannes mit Rückendeckung einer Graswurzelbewegung, das Urteil erwuchs vielmehr aus der Dynamik des Rechtssystems selbst. Dies stellte den Stein des Anstoßes dar, der eine diskursive Lawine lostrat; die Debatte wurde medial forciert und kontrovers diskutiert. Das Thema „Beschneidung“ beherrschte den Sommer letzten Jahres und wurde erst mit dem verabschiedeten Gesetz der Bundesregierung im Dezember, das Rechtssicherheit für religiös motivierte Beschneidung schaffte, abrupt für beendet erklärt. Was ist in diesem kurzen Zeitraum passiert? Anscheinend geht es nicht nur um mutmaßliche Körperverletzung, sondern um sehr viel mehr: einen Kampf um die Durchsetzung bestimmter Deutungen und legitimer Lebensweisen. Diskursanalytisch gesehen haben wir es hier mit Auseinandersetzungen um eine bestimmte Sicht auf die Welt zu tun, z.B. um Definitionen dessen, was ‚normal‘ ist und was nicht. In der Diskustheorie gelten all jene Praktiken und Einstellungen als „hegemonial“, die nicht hinterfragt und von einer breiten Öffentlichkeit hingenommen werden. So gesehen ist die Praxis der religiös motivierten Zirkumzision jäh aus einem hegemonialen Schlummer gerissen worden. Betroffen von diesen Aushandlungsprozessen sind Menschen muslimischen und jüdischen Glaubens, aber auch bestimmte christliche Religionsgemeinschaften (z.B. Kopt_innen), wobei letztere medial nicht im Fokus standen.

Hinter den Vorhang der Hegemonie blicken

Per se ist gegen das Hinterfragen von Deutungen und Verhaltensweisen nichts einzuwenden, eröffnet es doch Chancen zur Reflektion für alle Beteiligten. Warum sich nicht wundern über kulturelle Praktiken, in denen disparate Elemente wie selbstverständlich miteinander in Beziehung gesetzt werden? Ein Stückchen Vorhaut am männlichen Glied, juristische Regelungen, religiöse Vorstellungen, theologische Begründungen, medizinische Diskurse bildeten eine Blackbox, die nun mit der Debatte des letzten Jahres geöffnet worden ist. Was an dieser Debatte allerdings verwundert ist die Heftigkeit, mit der sie geführt, sowie die breite öffentliche Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde – und leider auch die antisemitischen und antiislamischen Ressentiments, die im Kontext dieser Dispute an die Oberfläche gespült wurden. An dieser Stelle interessiere ich mich weniger dafür, welche Sprecher_innen in diesem Diskurs die triftigeren Argumente anführen. Mir geht es darum, welche Stimmen gehört und welche weitestgehend ignoriert wurden, welche Diskursstrategien zur Anwendung kommen und was für einen Beigeschmack diese kurze, aber intensive Debatte hinterlässt.

Exkludieren, problematisieren, beenden: Strategien im Beschneidungsdiskurs

Als das bislang Unhinterfragte thematisiert und der diskursive Kampf eröffnet wurde, wurden drei idealtypische Arten des Umgangs sichtbar. Diskurssimplifizierer_innen (1) unterteilen die Welt in „gut“ und „schlecht“, „wir“ und „die anderen“. In der Beschneidungsdebatte finden sich die Simplifizierenden meist (wenn auch nicht ausschließlich) auf der Seite der Gegner_innen religiös motivierter Beschneidung, da diese ein Interesse an klaren Positionen und Schuldzuweisungen haben. Bestimmte argumentative Strategien untermauern die diskursive Blockbildung, so z.B. die Verwendung von Dichotomien wie zivilisiert/barbarisch, modern/vormodern, säkular/religiös (vgl. Çetin/Voß/Wolter 2012). Historische Kontextualisierungen werden bewusst vermieden oder bagatellisiert. Ein brachiales Vokabular („Amputation“, „Verstümmelung“, „sexuelle Traumatisierung“) und das in-die-Nähe-Rücken der Beschneidungsthematik zu Themen wie Kindesmissbrauch, weiblicher Genitalverstümmelung und intersexuellen Zwangsoperationen sind weitere Diskursstrategien, die der Dramatisierung, Kriminalisierung und Pathologisierung der Beschneidung dienen – und indirekt auch der daran beteiligten Akteursgruppen. Diskurssimplifizierende Akteure streben eine neue Form der Hegemonie an, die der alten entgegensteht. Sie führen einen Diskurs mit exkludierenden Mitteln. Durch eine solche Haltung können sich Befürworter_innen der religiösen Beschneidung genötigt sehen, bei der Blockbildung mitzumachen und eindeutigere Positionen nach außen zu vertreten, um die eigene Gruppenkohärenz zu stärken. Prinzipiell kann die Logik des „entweder-oder“ also genauso von den Befürworter_innen verfolgt werden bzw. verfolgt werden müssen.

Das Problem an dieser Blockbildung im Ringen um Hegemonie ist, dass Sprecher_innen mit differenzierten oder uneindeutigen Positionen tendenziell ungehört bleiben, da sie nicht ins antagonistische Schema passen. Diskurskomplizierer_innen (2), die einen problema­ti­sieren­den Diskurs führen wollen, sind nicht erwünscht und fallen in der Regel durchs mediale Raster. Selten bis nie wurde sich in der bundesdeutschen Debatte auf den vielgestaltigen US-amerikanischen Diskurs (vgl. Wyner Mark 2003) rund um das Thema Zirkumzision bezogen. Auch kamen keine jüdisch-feministischen Positionen zu Wort, die sich u.a. mit der Brit Mila als Frauen exkludierenden Initiationsritus befassen. Gern wird so getan, als ob innerhalb „des“ Judentums und „des“ Islams eine einheitliche Position zu diesem Thema vertreten wird. Die Möglichkeiten als in Deutschland lebende jüdische Mutter oder als muslimischer Jugendlicher Zweifel oder Unsicherheiten an der Praxis des Beschneidens als körperlichen Eingriff zu äußern, wird durch das „wir vs. die anderen“-Denken immer schwieriger.

Eine ganz eigene Position zwischen Komplexität und Simplifikation nimmt die bundesdeutsche Regierung ein. Vorrangig hatte sie zum Ziel, den im letzten Jahr für sie unerwartet auftretenden Diskurs zu regulieren, also Rechtssicherheit im Fall religiös motivierter Beschneidung herzustellen. Als Diskursbeenderin (3) trieb sie zunächst eine kurzzeitige Komplexitätserhöhung voran, holte Gutachten von Expert_innen ein, ließ einen Gesetzentwurf formulieren, im Bundestag besprechen und verabschieden. Insgesamt war und ist sie um die Versachlichung einer in der Öffentlichkeit inzwischen hochemotionalisiert geführten Debatte bemüht. Das Anliegen, den Deckel über dem antiislamischen und antisemitischen Gebräu zu schließen, das medial zu gären begann, ist nachvollziehbar. Doch ist damit auch eine Chance verpasst worden, sich mit der Existenz dieser Stimmen auseinanderzusetzen. Nach deren Ursachen, Verbreitungswegen und nach Möglichkeiten der Gegenrede zu suchen, wäre eine sinnvollere Umgangsweise gewesen als das konsequente Wegschweigen, für das man sich stattdessen entschieden hat. Als Nebenfolge der regulierenden Diskursbeendigungsstragie der Regierung kommt es letztlich wieder zu Verknappung der Sprecher_innen und in der Konsequenz zu einer Diskurssimplifizierung. Die Sorge vor menschenfeindlichen und aggressiven Positionen führt somit indirekt dazu, dass die ambivalenten Positionen, die eigentlich Gehör verdient hätten, im Zuge der Herstellung einer harmonistischen Hegemonie unterdrückt werden.

Ein vorläufiges Fazit aus diesen Beobachtungen: Seid skeptisch gegenüber einer rein antagonistischen Logik, die den eigenen Standpunkt verabsolutiert. Seid sensibel für die Zwischentöne – in dieser Debatte gibt es keine einfachen Antworten, auch wenn manche dies behaupten mögen. Lasst euch nicht vorschreiben, wann ein Diskurs beendet sein soll, nur weil er medial und politisch von der Bildfläche verschwunden ist, denn die Ressentiments, die in dieser Auseinandersetzung sichtbar wurden, wuchern weiter in den Köpfen und Herzen einiger Menschen.

Laura Kajetzke ist Soziologin und am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Philipps-Universität Marburg tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Soziologische Theorien, Poststrukturalismus, Wissenssoziologie, Raumsoziologie und Diskurstheorie, außerdem beschäftigt sie sich mit Machtwirkungen von Schulräumen und dem Spießertum als Lebensform. Zuletzt von ihr im transcript-Verlag erschienen (gem. mit Markus Schroer): Space Studies, in: Moebius, Stephan (Hg.): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies – Eine Einführung.

 


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