Die Kandidatin der LINKEN für das Berliner Abgeordnetenhaus blickt von der Titelseite einer Boulevardzeitung. Über ihrem Portraitfoto prangt in großen Lettern die Schlagzeile „Politikerin schockt mit wirren Sex-Thesen“. Wir befinden uns im Wahlkampf um einen Platz im Abgeordnetenhaus im Jahr 2011. Was war passiert? Die Kandidatin hatte eine harmlose, aber liberale Ansicht zur Sexualpädagogik vertreten. Die Position bot, wenn man einige Zitate aus dem Kontext riss, gerade noch so eine geeignete Vorlage für eine Skandalisierung. Vor allem aber lebte die Politikerin in einer polyamoren Beziehung mit zwei Männern, hat von beiden Kinder, lebt mit allen in einer gemeinsamen Wohnung. Die pädagogische Position war für die Berichterstattung zwar ein willkommener Anlass, der eigentlich kommunizierte „Skandal“ aber das nonkonforme Beziehungsleben der Frau: Der Verstoß gegen die Norm der Monogamie.
Nonkonformität als politisches Risiko
In der repräsentativen Demokratie, in der wenige Politiker*innen die Bevölkerung vertreten sollen, ist der Platz auf der Wahlliste und im Parlament begrenzt. Parteien stehen deshalb unter dem Druck, ihre sicheren Pferde ins Rennen zu schicken. Wer Geschlechternormen subversiv unterläuft, gehört leider selten dazu. In dieser Lage entscheiden sich viele Politiker*innen dafür, ihr Privatleben aus der Öffentlichkeit herauszuhalten, wenn sie etwa homosexuell oder polyamor lieben. Eine Politikerin setzt ihr Wahlergebnis aufs Spiel, wenn sie Hetero- und Mononormativität unterläuft, zu kurze oder zu lange Röcke trägt, in der Öffentlichkeit zu viele oder zu wenige Emotionen zeigt, zu „weiblich“ oder zu „männlich“ wirkt. Auch ihre männlichen Kollegen unterliegen Gendernormen: Sie würden nicht nur für zu kurze oder zu lange Röcke abgestraft, sondern bereits dann, wenn sie überhaupt einen Rock trügen. Sollte ihre Partei sie dennoch aufstellen, ist ihnen ein Ehrenplatz in der Boulevardzeitung sicher. All das kommt daher selten vor auf der politischen Bühne, es findet im Privaten statt. Das ist unglücklich, denn das Private, so wusste man schon im Entstehungsmilieu der Grünen, ist politisch.
Geschlecht wird „gemacht“
Geschlecht, so eine Standardthese der feministischen Metaphysik, ist sozial konstruiert. Als die vielleicht prominenteste Vertreterin dieser These schreibt Judith Butler, „Gender is not something one is, it is something one does; it is a sequence of acts, a doing rather than a being“. Es handelt sich nicht um eine stabile Identität, einen Ausgangspunkt, aus dem heraus wir handeln: „Rather, gender is (…) instituted (…) through a stylized repetition of [habitual] acts” (Butler 1999, S.179) Dazu gehört, wie wir uns kleiden, in welcher Tonlage wir sprechen und was wir dabei sagen, wie wir unser Geld verdienen, wie und wen wir lieben.
Selbst wer Butlers radikal konstruktivistische These nicht unterschreibt, wird doch zumindest zugestehen, dass das Handeln anderer unser Bild davon prägt, wie Frauen und Männer sich zu verhalten haben. Es ist deshalb von großer Bedeutung, welche Möglichkeiten, Geschlecht „zu tun“, auf der politischen Bühne und in den Medien sichtbar gemacht werden – und welche unsichtbar bleiben. Auch ohne übermäßig zu moralisieren oder sie zu überhöhen, kann Politiker*innen dabei ein besonderer Vorbildcharakter zugesprochen werden. Wenn diejenigen, die Geschlechternormen unterlaufen, das selten auf den besonders sichtbaren Spitzenplätzen der Wahllisten, auf Sprecher*innenposten oder als Vorsitzende tun (dürfen), werden Normen deshalb nicht herausgefordert, sondern im Gegenteil reproduziert.
Pluralisierung der Politik – Pluralisierung von Geschlechterbildern?
Eine mögliche Strategie besteht in dieser Situation darin, gezielt Vielfalt in die wenigen Repräsentant*innen zu bringen. Um sicher zu stellen, dass sich unter den wenigen Köpfen wenigstens einige Frauen befinden, haben die Grünen mit Frauenquote, Rednerinnenquote und anderen Maßnahmen Mechanismen für eine analoge und repräsentativdemokratische Welt mit begrenztem (Rede-, Zeitungsseiten-, Aufmerksamkeits-)Platz eingeführt.
Statt Vielfalt in die kleine Gruppe langfristiger Repräsentant*innen zu bringen, setzt die Piratenpartei auf den ständigen Wechsel innerhalb einer großen und heterogenen Gemeinschaft. Statt Lösungen für eine Welt begrenzter Köpfe zu suchen, haben die Piraten die Vision und Praxis einer „Liquid Democracy“. Dabei handelt es sich um eine flüssige Mischform aus repräsentativer und direkter Demokratie, in der die Grenze zwischen einfachem Parteimitglied und Politiker*in verschwimmt. Das führt zugleich zu einer Heterogenisierung und Kollektivierung politischer Akteur*innen. Wenn mehrere Tausend Piraten online Politik machen, vermindert das den Druck auf Einzelne. Wenn die Parteimitgliedschaft genügt, um in LiquidFeedback dabei zu sein, ist wenigstens hier egal, ob eine Person sich auch vermarkten lässt. Ihre Positionen werden gehört und, zumindest parteiintern, sichtbar gemacht. Hier bietet sich die Chance, die verkrusteten Repräsentanzstrukturen aufzubrechen.
„Unsere Welt ist überall und nirgends, und sie ist nicht dort, wo Körper leben“, heißt es in der Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace. „Wir erschaffen eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft. Wir erschaffen eine Welt, in der jeder Einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken darf, wie individuell sie auch sind, ohne Angst davor, im Schweigen der Konformität aufgehen zu müssen.“
John Perry Barlow, der Verfasser des Textes, übersieht in seinem wortgewaltigen Optimismus zwar Ausschlussmechanismen, die auch (manchmal sogar gerade) online wirken. Zudem ist auch LiquidFeedback nur so heterogen, wie es die Mitgliederstruktur der Partei hergibt. Aber die Utopie ist formuliert – und niemand hat gesagt, dass es leicht wird.
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Lena Rohrbach studierte Philosophie, Kulturwissenschaft und Geschichte in Berlin. Sie ist seit 2009 Mitglied der Piratenpartei, für die sie unter anderem das Geschlechter- und Familienpolitische Programm mitverfasst hat. Sie ist außerdem Bürgerdeputierte im Ausschuss „Frauen, Gleichstellung und Queer“ der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg und in der parteiinternen Plattform „Kegelklub“ engagiert, die sich mit den Geschlechterverhältnissen in der Piratenpartei beschäftigt.