von Aimee Carrillo Rowe
“Wir”-Fragen: Überlegungen zur Bedeutung differenzbasierter Bündnisse
Feministische Bündnisse sind unerlässlich für eine fortschrittliche Politik, denn sie bergen Potenziale für die Begegnung von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft. Ich unterscheide „Bündnisse“ aufgrund ihrer nachhaltigen Beständigkeit von „Koalitionen“, die von strategischen und in der Regel kurzen Beziehungen geprägt sind. Explizit „feministische“ Bündnisse bieten Raum für politische Intimität, die nicht nur individuelles, sondern auch kollektives Bewusstsein und sogar Institutionen verändern können. Feministische Bündnisse müssen aber auch intersektional sein. Das heißt, sie müssen wechselseitige Verschränkungen von Unterdrückung und Privilegierung berücksichtigen, die unsere Identitäten sowie die von unseren Projekten angestrebte Politik beeinflussen.
Warum differenzbasiert?
Da Bündnisse häufig sehr persönlich geprägt sind, neigen Menschen dazu, sie mit denen zu schmieden, die ihnen ähnlich sind. Viel schwieriger ist es jedoch, enge Bindungen zu Menschen aufzubauen, die anders sind als wir. Damit intersektionale Bündnisse überhaupt entstehen können, müssen sie unbedingt differenzbasiert sein.
Befreiung und Fortschreibung repressiver Systeme
Bündnisse unterliegen keiner bestimmten Politik. Wir können Bündnisse aus repressiven Beweggründen schmieden oder aber mit dem Ziel der Befreiung. Höchstwahrscheinlich werden die Bündnisse, die wir eingehen, beide Eigenschaften in sich vereinen: Sie werden befreien und zur Fortschreibung repressiver Systeme beitragen. Die Arbeit von wahrhaft progressiven Bündnissen sollten insofern einem diversen geprägten Anspruch genügen und die am stärksten marginalisierten Stimmen privilegieren, um die gesamte Gruppe [Bündnisgruppe] verantwortlich (accountable) zu machen für sowohl systemimmanente als auch indivduelle Ausübung von Privilegien. Bei meiner Arbeit ist mir beispielsweise aufgefallen, dass bei Bündnissen zwischen weißen und Frauen of Color die weißen Frauen von den Erfahrungen Frauen of Color mit Rassismus profitieren. Weiße Frauen jedoch – und dies ist bei jeder privilegierten Gruppe der Fall – weisen Kritik an ihrer privilegierten Stellung zurück, was feministischen Befürworter_innen eine Warnung sein sollte. Diese Zurückweisung wird oft als Ablehnung dargestellt: Privilegierte Frauen werfen marginalisierten Frauen vor, Ungleichheiten hervorzuheben und dadurch Distanz, Missverständnisse, gegenseitige Skepsis und Wut zu schüren.
Wer ist wir? – „Persönliches Weiterkommen“
Andererseits können wir bei feministischen transracial (transrasifizierten) oder transnationalen Bündnissen verschiedene intersektionale Machtvektoren, die für eine Sache prägend sind, viel besser berücksichtigen. Dies ist natürlich deutlich schwieriger, sowohl auf politischer als auch auf emotionaler Ebene. Einfacher ist es, uns als kollektives „Wir” unter dem „feministischen“ Dach zu definieren, ohne genauer hinzusehen, wer „wir“ sind und warum „wir“ eine Gemeinschaft bilden. Meine Forschungen haben beispielsweise gezeigt, dass weiße Frauen hauptsächlich Bündnisse mit anderen Weißen eingehen, weil sie sich davon „persönliches Weiterkommen“ versprechen; sie glauben nicht, dass Frauen of Color der Erreichung ihrer Ziele zuträglich sind. Natürlich ist jede institutionelle Stärkung von Frauen immer ein „Sieg“ für den Feminismus. Aber welche „Feministen“ profitieren von solch vereinzelten politischen Strategien? Welche Macht- und Privilegstrukturen sind in einem System verankert, das ihnen „persönliches Weiterkommen“ ermöglicht? Schauen wir dann auf das „Wir” dieser „gender-exklusiven” Form des Feminismus, so erkennen wir, dass sie andere Machtformen (weiß, heterosexuell, Klassenprivilegien, etc.) weiter festschreibt und ignoriert.
In or Out? – Etablierung der Women’s Studies in den USA
Eine Vision von “gender-inklusiven” Bündnissen ist nicht nur die Einbeziehung privilegierter Männer sondern auch einiger privilegierter Frauen. Beim Aufbau der Women’s Studies an US-amerikanischen Hochschulen wurden nach diesem Modell die Felder Bündnispolitik, Inklusion und Exklusion entwickelt. Meine Gespräche mit weißen Frauen dieser Generation haben gezeigt, was für eine entscheidende Rolle Weißsein und Heterosexualität bei der Auswahl der Frauen zum Aufbau der Women’s Studies gespielt haben. Befragte wiesen darauf hin, dass weiße Männer in Machtpositionen sich „wohler“ fühlten mit Frauen, die so waren, „wie sie es von zu Hause gewohnt waren“. Kurz gesagt, Männer suchten in den ausgewählten Frauen eine bequeme Begleitung. Weiße Frauen berichten demzufolge, dass sie aus „anderen“ als rein professionellen Gründen ausgewählt wurden.
Wer weiß was? – Weiße Wissens(re)produktion bei den Women’s Studies
Dieses Beispiel zeigt, wie Bündnisse – in diesem Falle zwischen weißen Männern und weißen Frauen – als Räume der Machtübertragung dienen. Zweck der Entwicklung der Women’s Studies war sicherlich eine Verbesserung der Geschlechterunterdrückung – ein „gender-inklusiver“ Ansatz also. Jedoch können „gender-inklusive“ Bündnisse gleichzeitig auch „gender-exklusiv“ sein. Da nämlich hauptsächlich weiße Frauen für die Entwicklung der Women’s Studies zuständig waren, dienten demzufolge ihre Erfahrungen und Epistemologien als Grundlage für die feministische Wissensproduktion. Mit zunehmender Institutionalisierung der Women’s Studies waren es häufig weiße Frauen, die Theorien verfassten, forschten, unterrichteten und Lehrpläne erstellten. Frauen of Color wurden sowohl beim Aufbau von Institutionen als auch bei der Produktion von Wissen marginalisiert.
Feministische Wissensproduktion und Institutionen – Wie sollte eine intersektionale und transnationale Annäherung aussehen?
Durch die Entwicklung der Women’s Studies entstand also ein neues Problem der Inklusion: Wie sollte eine intersektionale und transnationale Annäherung an die Produktion feministischen Wissens und an den Aufbau von Institutionen aussehen? Betrachten wir die Entwicklung der Women’s Studies modellhaft, erkennen wir, dass drei wesentliche Faktoren ineinander greifen: Bündnisse, Aufbau von Institutionen und Produktion von Wissen. Bündnisse dienen als empirische Grundlage zur Produktion von Wissen und zum Aufbau von Institutionen. Es ist allgemein bekannt, dass Netzwerke mindestens genau so wichtig sind wie eigene Leistungen und dass viele „Geschäfte” auf dem Golfplatz getätigt werden. Diese allseits anerkannte Tatsache deutet auf einen wichtigen Aspekt der Macht hin: Sie kursiert in vertrauten Kreisen. Die „Institution“ ist in Wirklichkeit nicht gesichtslos. Es sind Menschen, die eine „Institution“ erhalten oder zerstören, und Bündnisse sind der zwischenmenschliche Raum, in dem Institutionen aufgebaut werden. Dies ist wichtig, denn es zeigt auf, wie anpassungsfähig und beeinflussbar Institutionen und Macht sind. Wenn Institutionen aus Bündnissen entstehen, so impliziert eine Neugestaltung von Bündnissen auch die Neugestaltung von Institutionen.
Radikales feministisches Wissen – Eine Notwendigkeit
Feministische und marxistische Wissenschaftler_innen unterstreichen das Verhältnis zwischen sozialem Raum und Bewusstsein. Der Grundgedanke lautet, dass unser „Standpunkt“ von unserem „Platz“ in der Gesellschaft geprägt wird, d.h. wie wir die Welt sehen und deuten. Der Grundgedanke lautet weiter, dass Bewusstsein durch Erfahrungen und Erfahrungen wiederum durch unseren Platz in der Welt geprägt werden. Meine wissenschaftlichen Untersuchungen fügen dieser Argumentation eine weitere Ebene hinzu: Ich stelle mir die Frage, inwieweit der soziale Raum – und damit unser Standpunkt und Bewusstsein – funktionale Aufgaben unserer Bündnisse sind. Das zentrale Argument lautet: „Wir werden zu denen, die wir lieben“. Das heißt natürlich auch, dass „die wir lieben“ einen enormen Einfluss auf die Produktion von Wissen haben. In der Tat prägen „die wir lieben“ unsere Erfahrungen und wie wir diese Erfahrungen deuten. Weiße Frauen beispielsweise, die enge Bindungen zu farbigen Frauen eingehen, sind Rassismus ausgesetzt: Sie fühlen die Wucht des Rassismus, da dieser gegen jene Personen gerichtet ist, die sie lieben. Darüber hinaus haben sie Zugang zu den Gedanken, Sichtweisen und Deutungen einer Frau of Color. Vor diesem Hintergrund sind differenzbasierte Bündnisse für die Entstehung von radikalem feministischem Wissen von entscheidender Bedeutung.
„Lasst „Inklusion“ mehr sein als nur eine Worthülse!“
Die Frage nach dem „Wir” in Bündnissen ist also unerlässlich. Damit die Gemeinschaft des „Wir“ radikale Bündnisse schmieden und auf diese Weise Institutionen und Wissensformen umgestalten kann, müssen die Bedingungen für die Herausbildung des „Wir“ immer wieder neu hinterfragt werden. Es steht eine Menge auf dem Spiel und vieles ist möglich in Bezug auf die Fragen dieses Forums. Wenn „wir“ es schaffen, zusammenzufinden und etwas Bedeutendes aufzubauen, werden wir erkennen, dass es in unserer Macht steht, Macht zu verändern. Macht kann unterdrücken und Macht kann stärken – es kommt darauf an, wer sie ausübt, mit wem und unter welchen Bedingungen. Lasst uns gemeinsam das Machtgefüge verändern. Lasst „Inklusion“ mehr sein als nur eine Worthülse – ein Ethos, durch das wir radikale Politik aufbauen. Lasst uns mit etwas Bescheidenheit und der Bereitschaft, bequemes Terrain aufzugeben, ein „Wir“ aufbauen, das Machtverhältnisse verändern kann.
Aimee Carrillo Rowe ist Professorin für Rhetorik und hat den Lehrstuhl für Gender, Women’s and Sexuality Studies an der University of Iowa inne. Ferner ist sie dort auch Direktorin im Project of Rhetorik on Inquiry (POROI). Sie ist Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Artikel und Publikationen unter anderem von: “Power Lines: On the Subject of Feminist Alliances“ (2008).