von Mara Kastein
In der Online-Debatte zeigt sich, dass sich die Autor_innen der Artikel vor allem in einem einig sind: es muss noch viel getan werden, bevor von Geschlechtergerechtigkeit gesprochen werden kann. Dabei variieren die Lösungsvorschläge: für den einen braucht es beispielsweise „gendersensible und emanzipatorische Bildung und Erziehung“ (Kai Gehring), für die andere muss Jungenarbeit dabei immer auch die „Konstruktion von Männlichkeitsidealen“ im Blick haben (vgl. Elahe Haschemi Yekani), ein anderer spricht von einem „langfristigen Wertewandel“ in Schul-, Gesundheits- und Sozialpolitik (vgl. Martin Wilk) und wieder andere rufen zu mehr Bündnissen auf (vgl. Ilse Lenz, Sabine Hark) oder wünschen sich die Einbeziehung anderer Herrschaftsverhältnisse in die Geschlechterpolitik (vgl. z.B. Franza Drechsel, Katrin Rönicke). All diese Ideen thematisieren wichtige Bereiche, die bislang zu wenig Eingang in die Politik gefunden haben.
Die Ideen der Autor_innen lassen sich grob in zwei Richtungen aufteilen: die „pragmatisch-politische“ Richtung und die wissenschaftliche, „dekonstruktivistische“ bzw. „queere“ Richtung.
Auf der einen Seite stehen pragmatisch-politische Ideen und Forderungen, die aktuelle Geschlechterverhältnisse mithilfe sozialpolitischer Maßnahmen (z.B. geschlechtersensibler Bildung/ Erziehung, Quotenregelungen etc.) in eine gleichberechtigte Verbindung zwischen Frauen und Männern setzen wollen. Forderungen nach geschlechtersensibler Bildung und Erziehung, die Jungen und Mädchen nicht ihre vermeintlich natürlichen Rollen zuschreibt, sondern sie in ihrer individuellen Entwicklung unterstützt, wurden von mehreren Autor_innen genannt. Das Grüne Männermanifest, das im Frühjahr dieses Jahres erschien, kann in mancherlei Hinsicht als ein Schritt in die richtige Richtung gewertet werden. Es wendet sich gegen traditionelle Männlichkeitskonzeptionen und spricht sich für ein vielfältigeres Verständnis von Männlichkeit. Allerdings stimme ich Sebastian Scheele und Sven Glawion zu, die den Klientelcharakter des Manifestes kritisieren. Denn es plädiert zwar einerseits für eine größere Vielfältigkeit von Männlichkeit(en), spricht mit seinen konkreten Forderungen aber andererseits nur die Wirklichkeit einer bestimmten Schicht von Männern an, diejenigen nämlich, die in der Position sind, sich über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie Gedanken machen zu können (vgl. z.B. die Kritik am Grünen Männermanifest von Sven Glawion).
Auf der anderen Seite lässt sich eine grundlegendere, systemkritischere Herangehensweise entdecken. Hierbei handelt es sich um eine Kritik am herrschenden (Geschlechter-)System, in dem Geschlecht oder gender als abstrakte Herrschaftsdimension zu begreifen ist, die es über kurz oder lang zu entschärfen bzw. abzuschaffen gilt. Der Konstruktionscharakter von Geschlecht ist nicht neu, aber leider noch viel zu wenig in konkrete politische Forderungen eingeflossen. Wie Sebastian Scheele bin ich der Meinung, dass Geschlechterpolitik die strukturelle Dimension mit einbeziehen sollte. Es reicht nicht, gegen die vorhandene Lohndiskriminierung auf individueller Ebene mehr Frauen zu ermutigen, Karriere zu machen. Vielmehr müssen Strukturen, die Menschen in die Lage versetzen einen gut bezahlten Beruf ausführen zu können oder auch nicht, hinterfragt und durchbrochen werden. Gerade hierfür bieten kritische Wissenschaften wie die Geschlechterforschung oder die Soziologie seit langem gute Denkanstöße. Ansätze wie die Intersektionalität als eine Theorie sozialer Ungleichheit sprechen schon lange nicht mehr von Mann = Täter/Oben und Frau = Opfer/Unten. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass in bestimmten Situationen neben Geschlecht auch andere Diskriminierungskategorien wie Ethnie, Religion, Klasse etc. eine über- bzw. untergeordnete Rolle spielen können. So stimme ich Franza Drechsel zu, wenn sie sagt, grüne Frauen- und Genderpolitik müsse Bewusstsein dafür schaffen, dass, wann und wie bestimmte (weiße) Männergruppen in unserer Gesellschaft privilegiert sind.
Und gerade an dieser Stelle versagt das Grüne Männermanifest. Wie Elahe Haschemi Yekani bin auch ich der Meinung, dass nicht „der Macho“ in unserer Gesellschaft heute noch privilegiert ist. Natürlich ist es nach wie vor nicht – und umso weniger seit der Einführung von Hartz IV – der arbeitslose Mann, der in der Gesellschaft am meisten soziale Anerkennung erfährt. Er wird als Last des Sozialstaates wahrgenommen. Dennoch haben sich die Bilder von Männlichkeit in einer Hinsicht verändert und an das System angepasst, dass es schwerer fällt, eindeutige Herrschaftsstrukturen aufzudecken. Wie Haschemi Yekani ausführt, sind es „ja gerade jene Männer, die inzwischen flexiblere Konzeptionen von Männlichkeit leben – also durchaus Fürsorge für sich und andere übernehmen können und wollen – die erfolgreich in neoliberalen Marktstrukturen funktionieren können“. Denn die Flexibilität des neoliberalen Systems macht es schwer es zu verändern. Hier verbirgt sich auch die Gefahr der Verkennung patriarchaler Strukturen, die von vielen nicht mehr wahrgenommen, bzw. explizit geleugnet werden. Kritiklos bleiben darf in diesem Zusammenhang auch nicht die historisch betrachtet als fortschrittlich geltende aktuelle Familienpolitik Deutschlands. Denn sie trägt dazu bei, dass das immer noch in den Köpfen vorherrschende Bild des männlichen Familienernährers weiterhin besteht und dabei lediglich um die neoliberale Komponente der weiblichen Erwerbstätigkeit erweitert wird. So kommen Leistungen aus der Familienkasse gerade denjenigen zu, die sich im oberen Drittel der Einkommenshierarchie wähnen dürfen. Jene, die sich ohnehin schon am unteren Rand jener Hierarchie befinden, dürfen mit der Einführung des einkommensabhängigen Elterngeldes ab sofort mit einer weiterreichenden Marginalisierung in Form von geringerer staatlicher Zuwendung rechnen (vgl. hierzu Haller/ Nowak, Die Erosion des männlichen Familienernährermodells, Feministisches Institut Hamburg, 2010).
Wie so oft argumentieren Wissenschaft und Politik auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Erstere kritisiert auf grundlegendere Art, spielt dabei mit Grundfesten des Systems und lässt Utopien zu. Letztere hat eher den Anspruch, systeminhärent konkrete Handlungsoptionen zur Umgestaltung aktueller Verhältnisse zu entwickeln und bereitzustellen.
Nicht ein Gegeneinander sondern nur ein Miteinander verspricht Erfolg. Alte Gräben des Geschlechterkampfes sollten überwunden werden. Und generell sollte ein Miteinander an manchen Stellen machbar sein. Die Expertise von Wissenschaftler_innen aus der Soziologie und Geschlechterforschung kann der (Geschlechter-)Politik helfen, konkrete politische Forderungen zu optimieren und umfassender zu machen. Konstruktive Kritik am Grünen Männermanifest beispielsweise kann es insoweit verändern, dass die darin beschriebene Form von Männlichkeiten für mehr Menschen zu einer Handlungsoption wird. Auch andere Politikbereiche müssten sich m.E. mehr der Geschlechterfrage annehmen. Beispielsweise können wissenschaftliche Studien zur Pflegesituation oder zu globalen Versorgungsketten (vgl. z.B. Hochschild, Lutz) dabei helfen, Werte des Gesundheitssystems zu verbessern. Dies ermöglicht Männern wie Frauen ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten, ohne Nachteile zu erfahren, wenn sie Kinder, Eltern oder andere Verwandte oder Bekannte erziehen/ pflegen wollen. Hiermit einhergehend wäre auch eine Aufwertung von Pflegetätigkeiten und pädagogischen Berufen an sich wünschenswert. Nicht, damit mehr Männer sich für einen Beruf als Grundschullehrer entscheiden (obwohl dies ein begrüßenswerter Nebeneffekt wäre). Sondern vor allem darf pflegebedürftigen Menschen nicht weiterhin der Eindruck vermittelt werden, sie seien in unserer Gesellschaft nicht mehr als eine Last.
Aber nicht nur die Politik ist gefragt: auch ein Umdenken zu Mannsein und Frausein und zu Partnerschafts- und Familienstrukturen in unserer Gesellschaft ist notwenig. Und dass dieses Umdenken noch nicht statt gefunden hat, lässt sich neben der aktuellen Familienpolitik auch an vielen Kommentaren zur Online-Debatte feststellen: hier verwundert vor allem das Reden über „die Frauen“ vs. „die Männer“ bzw. „die armen Jungs“. Einige der Kommentare vermitteln außerdem den Eindruck, es gehe ihren Verfasser_innen in erster Linie darum, Frauen- und Männerpolitik gegeneinander auszuspielen. Hier zeigt sich ein trauriger Knackpunkt der auf Kommentarebene geführten Debatte, den auch Stephan Höyng bemerkt hat: die Angst um Gelder verhindert den Dialog. Doch „ist der Kampf um Gelder ein Grund für die Gegnerschaft zu Mädchen und Frauenarbeit?“ (vgl. Stephan Höyng). Und dürfen Debatten, in denen es um wichtige geschlechterdemokratische Herangehensweisen gehen sollte, sich um Geld drehen? Wie Sabine Hark ganz richtig anmerkt, bringen derlei „identitäre[] Klientelpolitik und Schuldzuweisungen an Frauen“ die Debatte um eine gerechte Geschlechterpolitik nicht weiter. Geschlechterpolitik darf nicht nur ein Geschlecht betreffen. Jedoch darf es nicht darum gehen, die Förderung von Frauen einzuschränken, um mehr Jungen und Männer zu fördern. Vielmehr müsste sich die Debatte um strukturelle Fragen, die sich z.B. mit dem Schulsystem als Ganzem befassen, drehen.
Was bleibt also aus der Debatte zu lernen? Wie muss Geschlechterpolitik in Zukunft aussehen, um den wirklichen Herausforderungen der gesellschaftlichen Gegenwart entgegenzutreten?
Meines Erachtens bedarf es viel mehr Einbeziehung (geschlechts-)wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Politik. Auch eine größere Offenheit gegenüber gesellschaftspolitischen Utopien und damit verbundener Systemkritik würde ich mir für die Politik wünschen. Daraus hervorgehen sollten beispielsweise neue Arbeitszeitmodelle (wie z.B. Teilzeitarbeit für alle oder kurze Vollzeitarbeit). Die Einbeziehung von anderen Differenzkategorien ist hierbei unbedingt notwendig. Denn was bringt eine Umstrukturierung von Geschlechterhierarchien, wenn zwischen weiß und nicht-weiß, alt und jung, reich und arm etc. die Klüfte weiterhin unüberwindbar bleiben? Aber nicht nur die Politik ist handlungsfähig: auch Bündnisse und Zusammenschlüsse von Gruppen, bestehend aus zivilpolitischen Individuen sollten nicht unterschätzt werden. Gerade über veraltete Geschlechtergrenzen hinaus sollte es mehr Bündnisse zwischen verschiedenen Männern, denen an Geschlechterdemokratie etwas liegt, mit Feminist_innen, nicht-weißen Aktuer_innen, mit queer handelnden und denkenden Menschen geben.