von Andreas Kraß
In seinem 1975 erschienenen Buch „Außenseiter“ hat der Literaturwissenschaftler Hans Mayer drei Gruppen in den Blick genommen: Frauen, Homosexuelle und Juden. 36 Jahre später ist es dringend nötig, eine weitere Gruppe zu fokussieren, die sich bislang als Innenseiter wähnen durfte, aber doch, statistisch besehen, eine Minderheit darstellt.
Zieht man von der Gesamtbevölkerung die Frauen (ca. 50 %) und homosexuellen Männer (ca. 2,5 bis 5 %) ab, dann sind die heterosexuellen Männer eindeutig in der Minderzahl. Nimmt man noch die Kriterien der Hautfarbe und der Religion hinzu, dann wird es eng für den weißen christlichen heterosexuellen Mann.
Nehmen wir als Beispiel die Geschlechterverteilung unter den Professoren. Heutzutage sind nicht mehr, wie noch vor hundert Jahren, 99 %, sondern nur noch 83 % der deutschen Professoren männlich. Wenn das so weitergeht, wird es schon in wenigen Jahrhunderten mehr Frauen als Männer in diesem Berufsstand geben. Man sieht: Die Lage spitzt sich zu.
Wenn die Hebamme sagt, „Es ist ein Junge“, dann müssen sich die Eltern also Sorgen um die Bildungschancen ihres Kindes machen. Es ist an der Zeit, die gefährdete Natur des heterosexuellen Mannes näher zu untersuchen und seine verminderten Chancen im sozialdarwinistischen Überlebenskampf zu erforschen.
Wie kann ein Mensch, der von Geburt an mit Privilegien ausgestattet wird, die nicht durch Leistung gedeckt sind, sich plötzlich in einem Wettbewerb behaupten, in dem ihm die bloße Geschlechtszugehörigkeit nicht mehr als Pluspunkt gutgeschrieben wird?
Die heteronormativitätskritische Erforschung der männlich-heterosexuellen Geschlechtsidentität muss endlich dorthin gerückt werden, wo der Mann in patriarchalen Kulturen immer schon stand: in den Mittelpunkt.
Prof. Andreas Kraß ist Professor für deutsche Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Mitglied des Cornelia Goethe Centrums für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse.
Buchveröffentlichungen (Auswahl): Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe (Fischer 2010); Queer Studies in Deutschland. Interdisziplinäre Beiträge zur kritischen Heteronormativitätsforschung (Trafo 2009, Hg.); Tinte und Blut. Politik, Erotik und Poetik des Martyriums (Fischer 2008, Mithg.); Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Suhrkamp 2003, Hg.).