von Sabine Hark
„Jungs sind so!“ titelt die ZEIT vom 5. August 2010. So nämlich: Sie versagen in der Schule, sie können, wie der Erziehungswissenschaftler Klaus Hurrelmann im Zeit-Gespräch feststellt, die heute relevanten sozialen Codes nicht knacken, weshalb sie sich in der Schule, die obendrein von Lehrerinnen dominiert sei, nicht zurecht finden; sie brauchen Raum, Zeit und Gelegenheit zum Raufen und Toben, weil sie „vom Naturell her raumgreifender“ sind; sie können nicht still sitzen und lesen lieber Comics statt Erzählungen; sie verstehen wahlweise sich selbst oder die Welt nicht und sind von pubertären Hormonstürmen gebeutelt. So oder ähnlich können wir es seit geraumer Zeit von Woche zu Woche mal in der ZEIT, mal im Spiegel, im Focus, in der FAZ und ohnehin im Internet lesen. Mit Verlaub: das ist Sexismus pur.
Eine prima vista seltsame Allianz vornehmlich aus in anderen Fragen eher kritischen Wissenschaftlern, teilweise antifeministischen Männerrechtlern und besorgten Politiker_innen sorgt sich nicht nur um „die Jungs“ und deren Fortkommen, sie versorgt uns auch mit Beschreibungen und Erklärungen, warum das so ist, aus der geschlechterstereotypisierten und -typisierenden Klamottenkiste. Eine Tendenz, von der auch das grüne Männermanifest nicht gänzlich frei ist. Wo dieses indes erkennt, dass auch Männer nicht geboren, sondern gemacht sind, sich Männlichkeiten also verändern – und dringend verändert werden müssen! –, wird uns in jenen Einlassungen eins ums andere Mal die Mär vom ewigen Wesen bzw. Naturell der Jungs aufgetischt. Da Jungs seien, wie sie sind, und sie in einer Welt zurecht kommen müssten, die nicht für sie gemacht sei, bedeute Geschlechtergerechtigkeit demzufolge, diese Welt endlich ihrem Wesen anzupassen [sic!].
Aus feministischer Perspektive – in der es, entgegen den antifeministischen Vorurteilen immer um die Freiheit beider Geschlechter ging – verwundert hier vieles. Waren es über Jahrhunderte besonders die Frauen, die in solch unhistorischer und universalisierender Weise als Gattungswesen und nicht als Individuum beschrieben wurden, so ereilt dieses Schicksal jetzt die Jungs. Nachdem sich die Frauen vom Korsett Weiblichkeit befreit haben, ist es daher nicht gänzlich ohne Perfidie, dass heute jene, die sich aufgerufen fühlen, das männliche Geschlecht zu schützen und meinen, eine wie auch immer verstandene natürliche Zweigeschlechtlichkeit retten zu müssen, dafür jetzt ‚die Jungs‘ in Haft nehmen und versuchen, diese in ein leicht neu gewandetes, letzlich aber altes Männlichkeitskorsett zu schnüren. Dass aber auch unter diesen viele lieber ihre Tage mit Büchern verbringen als Rambo zu spielen, dass manche Jungs lieber tanzen statt Fußball spielen, dass manche Fußball spielen und tanzen, dass sowohl die einen wie die anderen von Geschlechternormen in vielfältiger, oft gewaltförmiger Weise eingeschränkt und diszipliniert werden, scheint für Hurrelmann & Co. dabei ein hinnehmbarer Kollateralschaden zu sein.
Aber auch dass die Welt nicht für Jungs gemacht ist, wie Hurrelmann nicht nur in diesem ZEIT-Gespräch nahelegt, gibt der queeren Feminist_in in mir Rätsel auf. Dachte doch bisher nicht nur ich, dass wir in a man’s man’s man’s world leben, wie James Brown schon Mitte der 1960er Jahre sang: „You see, man made the cars to take us over the road/Man made the trains to carry heavy loads/Man made electric light to take us out of the dark/Man made the boat for the water, like Noah made the ark …“. Und nun soll genau diese Welt, die Männer sich nach ihren Vorstellungen erschaffen haben, nicht mehr passend sein für sie? Nicht, dass mir – und wohl allen Feminist_innen – das nicht zu Paß käme. Doch statt Klage über Entfremdung von der eigenen Welt, statt identitärer Klientelpolitik und Schuldzuweisungen an Frauen würde ich mir wünschen, dass mehr Männer aktiv nach neuen Weisen suchen, sich mit der Welt zu befreunden: Weisen, die alle Geschlechter und deren Möglichkeiten im Blick haben.
Um nicht missverstanden zu werden: Es geht nicht darum, die nackten Tatsachen zu leugnen, dass etwa die Mehrzahl der Hauptschüler männlich und die Mehrzahl derjenigen, die die Schule ohne Schulabschluss verlassen, Jungs sind. Darin steckt ohne Zweifel eine unserer großen gesellschaftspolitischen Herausforderungen, bedeutet es doch, dass ein immer größer werdender Teil der Bevölkerung von gerechter und menschenwürdiger Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Doch ebensowenig wie ‚Jungs so sind‘, sprechen diese vorgeblich nackten Tatsachen für sich, wie viele in der Debatte insinuieren. Denn schauen wir genauer hin, so zeigt sich sehr schnell ein multivariates Set von Gründen für das männliche Schul-drop-out. Auch ist auf der Rückseite dieser Statistiken beispielsweise zu verzeichnen, dass gerade in der Sekundarstufe II Lehrerinnen nicht die Mehrheit des Lehrpersonal stellen, sie für die „Diskriminierung“ der Jungen, von der Hurrelmann spricht, also zumindest in der gymnasialen Oberstufe mehrheitlich nicht verantwortlich sind, oder dass am oberen Ende der Bildungsleiter, in den akademischen Spitzenpositionen, noch auf viele Jahre hin deutlich mehr Männer als Frauen zu finden sein werden – und wir reden hier über Zahlen im 20 %-Bereich. Und wenn wir den Blick über den nationalen Tellerrand schweifen lassen, so verzeichnen wir, dass 2/3 aller Analphabet_Innen weiblich sind und nur in 3 % aller Länder genau so viele Frauen wie Männer an tertiärer Bildung partizipieren. Es irritiert daher doch sehr, wie selektiv hier argumentiert und wie unangefochten auch kritische Erziehungswissenschaftler zur Erklärung des schulischen Versagens von Jungen auf ein längst brüchig gewordenes, abgestandenes Alltagswissen über Zweigeschlechtlichkeit zurückgreifen und zudem selten schlichte Lösungen parat haben.
Dass Männlichkeit nur an biologisch männlichen Körpern erfahrbar ist, weshalb mehr Männer in die Erziehungsanstalten müssen, damit Jungs das gesamte Spektrum menschlicher Erfahrungen und Gefühle erleben können, wie Hurrelmann anmahnt, ist jedenfalls an intellektueller Schlichtheit kaum zu unterbieten. Mehr noch: Mit seiner Forderung nach einer Quote für Männer suggeriert er, dass Männer systematisch aus den Bildungsanstalten fern gehalten würden. Mir sind indes – abgesehen von der schlechten Entlohnung und dem mangelnden Prestige des Lehrberufs in der Primarstufe – keine formalen Barrieren bekannt, die Männer daran hindern, Grundschullehrer oder Erzieher zu werden. Warum also spricht Hurrelmann nicht von jenen gesellschaftlichen Mechanismen, die dazu führen, dass Berufe, sobald sie als feminisiert gelten, gesellschaftlich an Wert verlieren, in der Folge dort das Lohnniveau sinkt und sie deshalb für Männer nicht attraktiv sind? Warum beklagt er, dass Jungen in der Hauptschule von Lehrerinnen behindert werden statt für die Abschaffung der Hauptschule zu streiten? Warum sucht er nicht das antisexistische Bündnis mit jenen Männern, denen es um eine Erweiterung der geschlechtlichen Möglichkeiten auch von Männern geht, statt diese erneut in alte Stereotypen zu pressen? Kein Wort auch zu den in den vergangenen Monaten öffentlich gewordenen sexuellen Gewaltverhältnissen, in die erwachsene Männer Jungen gerade in den Bildungsanstalten der Nation gezwungen haben. Sind das die Vorbilderfahrungen, die Jungen machen sollen? Wohl kaum.
Das grüne Männermanifest spricht viele dieser Probleme an. Es ist ein (erneuter) Anfang. Für einen Aufbruch der Männer auch aus ihrer Unterwerfung unter selbst verschuldete patriarchale Verhältnisse und Verhinderungen braucht es indes mehr als ein Manifest. Es braucht langen Atem, Bereitschaft zum Ausstieg aus der Komplizenschaft mit hegemonialen Männlichkeiten, Koalitionen auch mit Feminist_innen – und patriarchatskritische, feministische Wissenschaft.
Prof. Sabine Hark ist Soziologin. Sie ist Professorin an der TU Berlin und wissenschaftliche Leiterin des dortigen Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung.