Post Colonia – Feminismus, Antirassismus und die Krise der Flüchtlinge

Massimo Perinelli

Die Kölner Silvesternacht ist zum Sündenfall der Willkommenskultur des vergangenen Jahres geworden. „Köln“ schien ein Startschuss zu sein für die Entladung rassistischer Ressentiments in Deutschland, Europa und sogar weltweit. Vorgefertigte rassistische Statements und Gesetzesentwürfe, faschistische Angriffe auf Nichtdeutsche, rechtspopulistische Hetze gegen demokratische Prinzipien und Entsolidarisierung mit geflüchteten Menschen wurden und werden im Namen von „Köln“ verfasst, verabschiedet und betrieben. Der „lange Sommer der Migration“, der 2015 die soziale Frage nach Teilhabe, Würde und Bürgerrechten mit Wucht auf die politische Tagesordnung setzte und damit eine Vision einer anderen, solidarischen Gesellschaft schuf, scheint nun wie ein Traum zu zerplatzen.

Tatsächlich gelang es den Menschen, die vor Krieg und Elend flohen und sich im Laufe des letzten Jahres einen Korridor nach Europa erkämpften, eine für Deutschland beispiellose Empathie und Solidaritätswelle zu erzeugen, die dem strukturellen Rassismus erhebliches Terrain abtrotzen konnte, sowohl medial, politisch als auch auf der ganz normalen Alltagsebene des Zusammenlebens. Nicht weniger war gelungen als die partielle Überwindung der rassistischen Spaltung dieser Gesellschaft.

Dass diese starken Pflöcke nun ohne nennenswerten Widerstand wie zarte Äste zerbrochen werden konnten ist ein Phänomen, das nur aus der Verschränkung mit einem anderen, sehr wirkmächtigen Diskurs zu begreifen ist, nämlich der Sexualisierung rassistischer Ressentiments. Wie schon in den naturwissenschaftlichen Debatten des 19. Jahrhunderts über die Triebhaftigkeit von schwarzen Menschen, die ihre Fortsetzung in der Hetze gegen afrikanische Kolonialtruppen im Ruhrgebiet nach dem Ersten Weltkrieg fanden, wurde auch nun, hundert Jahre später, genau die gleiche Figur der durch nordafrikanische Männer bedrohten weißen beziehungsweise deutschen Weiblichkeit aktiviert. Dieser tief sitzende Mechanismus verhalf dem kruden – offiziell jedoch geächteten – Rassismus in das Herz der bürgerlichen Debatten. Was wir „nach Köln“ beobachten konnten, war eine Kulturalisierung der Vergewaltigungskultur, die Sexismus und patriarchale Strukturen als etwas Fremdes exterritorialisierte, sich aber gleichzeitig an dem Bild des „antanzenden Nordafrikaners“ sexuell erregen konnte. Es gibt eine lange Tradition in der Geschichte, dass sich Rassismus meist nicht über distinkt rassifizierende oder ethnisierende Zuschreibungen, sondern über kulturelle und darin vorwiegend geschlechtliche Aspekte ausdrückt.

Rassismus drückt sich in der Geschlechterordnung aus

Diesen Mechanismus zu verstehen ist wichtig, weil er eine Schwachstelle im gegenwärtigen antirassistischen Denken markiert und einen Grund für den Zusammenbruch der solidarischen Gesellschaft post-Colonia darstellt. Das im Antirassismus und Feminismus aktuell so populäre Theorem der Intersektionalität hantiert mit der Vorstellung einer Überkreuzung von Rassismus und Sexismus (und anderen gesellschaftlichen Exklusionsmechanismen) im Sinne einer Addition oder gegenseitigen Bestärkung von Unterdrückungsverhältnissen. Judith Butler plädierte jedoch bereits Ende der 1990er Jahre dafür, das Verhältnis von Sexismus und Rassismus anders zu fassen: „I am less interested in theories of intersectionality, […]. I’m much more interested in how one becomes the condition of the other, or how one becomes the unmarked background for the other … For me, it’s not so much a double consciousness – gender and race as the two axes, as if the’re determined only in relation to one another, I think that’s a mistake – but I think the unmarked character of the one very often becomes the condition of the articulation of the other.“[1]

Der unklare Charakter von Rassismus ist nach Butler also weniger eine eigenständige Achse, sondern vielmehr die Bedingung, um Geschlechterordnungen artikulieren zu können. Und umgekehrt fungieren die diffusen, gerade nichtdefinierbaren Geschlechterrollen als Resonanzraum für rassistische Vorstellungen. Das eine drückt sich über das andere aus und reaktualisiert sich dadurch: Nur so kann eine Kulturalisierung von Sexismus gelingen: Sexismus, das sind die anderen – und umgekehrt, Antisexismus, das sind wir. Und auch die Vergeschlechtlichung von Nationalität oder sogenannter Ethnie funktioniert über die Artikulation der einen Kategorie durch die andere. Was schon schwarze Feministinnen vor Jahrzehnten mit ihrem Blick auf race und gender treffend beschrieben, „All Blacks are men, all women are white“, lässt sich für die hiesige Situation übersetzen: „Alle Nordafrikaner sind Männer, alle Frauen sind Deutsche.“ Und so fragt auch niemand nach der Nationalität der angegriffenen Frauen in der Silvesternacht, etwa ob Migrantinnen unter ihnen waren, so wie auch niemand über die Nationalität der vielen deutschen sexuellen Gewalttäter spricht, die bei ähnlichen Anlässen, wie Fußballspielen oder Volksfesten, für Angst und Schrecken sorgen.

Die Analyse von Butler verweist also auf eine Schwachstelle linker Analyse und bietet damit Raum für eine Kritik an der eigenen Politik, konkret an diversen antirassistischen und feministischen Reaktionen auf Köln. Diese sollen im Folgenden problematisiert werden.

Zunächst können wir eine Gegenkulturalisierung des Antirassismus beobachten. Während unmittelbar nach der Silvesternacht in der Presse eine rassistische Lawine gegen nordafrikanische Männer im Speziellen und Flüchtlinge im Allgemeinen losgetreten wurde, argumentierten viele antirassistische und antifaschistische Gruppen spiegelbildlich: Der sexualisierte Angriff auf eine bis heute unbekannte Zahl von Frauen vor dem Kölner Hauptbahnhof hätte nichts mit einer Spezifik der Täter zu tun, außer mit der, dass es sich eben um Männer gehandelt hätte. Schnell wurde das Münchner Oktoberfest als deutsches Pendant präsentiert, wo es ähnlich hohe Zahlen an sexuellen Gewaltverbrechen gäbe – es also etwas Ähnliches sei wie die Silvesternacht. Der Aufschrei, den es nach Köln gab, sei also nur mit Rassismus zu erklären. Eine Street Art Künstlerin plakatierte unter dem Hashtag #ausnahmslos im Januar in Köln: „Silvesternacht – und ihr schreit, 7400 Vergewaltigungen im Jahr 2014 – und ihr schweigt“. Dazu kam, dass viele antirassistische Gruppen betonten, dass Flüchtlinge selber Opfer dieser Art von Gewalt seien und auf keinen Fall solche Täter sein könnten. Zusätzlich verteilten syrische Männer in Köln ein Flugblatt, auf dem sie erklärten, dass der Respekt vor Frauen Teil der syrischen Kultur sei und sie deswegen allein wegen ihrer Herkunft solche Taten wie vor dem Kölner Hauptbahnhof verurteilten. Dass Flüchtlinge mit dem Rücken zur Wand standen und sich genötigt sahen, den Deutschen zu erklären, dass sie zivilisierte Menschen seien, in der Hoffnung, so dem Rassismus zu entkommen, ist verständlich. Dass es ihnen nichts nutzen wird, weil Rassismus noch nie über das Argument der Aufklärung überwunden wurde, steht auf einem anderen Blatt. Die Geflüchteten im Transitraum zwischen Ankommen und Bleiben hatten und haben nicht viel Spielraum.

Geflüchtete können keine Täter sein?

Problematischer erscheint hingegen eine antirassistische Politik, die mittlerweile in einer paternalistischen Identitätspolitik verstrickt ist, in der ihr Gegenüber – die Geflüchteten – stets nur Opfer sein können, darin also Unschuldige. In dieser Reaktion steckt indes eine Entmündigung, die ihrerseits die Spaltung zwischen Deutschen und vermeintlich Nichtdeutschen vergrößert, statt eine erfolgreiche Strategie der Auflösung von Rassismus zu verfolgen. Diese Reaktion spricht von einer Moral der Schuld, in der die anderen immer nur Getriebene ihres Schicksals sind, niemals aber vollständige Menschen sein können. Refugees als selbstbestimmte Subjekte anzuerkennen, die auch zum Verbrechen fähig sind, scheint schwierig zu sein. Ali Toprak, der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde in Deutschland, sprach nicht ohne Grund von „postkolonialer Überheblichkeit“ der weißen Unterstützerinnen, die seine engagierte Kritik an Praktiken von Männern aus frauenfeindlichen Strukturen in Ländern des politischen Islams regelmäßig unsichtbar machen.

Die Spezifik der Kölner Silvesternacht war jedoch eine andere als die sexualisierte Gewalt im Kölner Karneval oder beim Oktoberfest. Der massive sexuelle Angriff auf Frauen im öffentlichen Raum, zumindest wie er sich in den öffentlich gewordenen Aussagen von betroffenen Frauen darstellte, war in dieser Dimension neu und darin tatsächlich schockierend. Es schien sich eine Gewalt entfaltet zu haben, die hierzulande gesellschaftlich delegitimiert ist, die aber in Ländern des Maghreb Ausdruck einer politischen Systematik ist; der Tahrir-Platz in Kairo wurde in vielen Artikeln zu Recht erwähnt, wo protestierende Frauen mittels sexueller Gewalt aus dem öffentlichen bzw. politischen Raum gedrängt wurden. Dass es das hier so nicht gibt, liegt nicht daran, dass deutsche Männer dazu nicht fähig wären, sondern weil Jahrzehnte feministischer Kämpfe das Kräfteverhältnis juridisch, politisch und diskursiv verschoben haben, muss sich sexuelle Gewalt hier andere, kommodifizierte und verkappte Wege suchen. Die Konsequenz aus dieser Sicht kann daher nicht sein, den strukturellen Sexismus zu kulturalisieren, sondern sich vielmehr mit Frauen (und Männern) in und aus diesen Ländern zu verbünden, die sich gegen solche Angriffe wehren, und gemeinsam den unterschiedlichen Formen von antifeministischer Gewalt zu begegnen.

Der behördlich erzwungene Männerbund

Die Gewalt der Silvesternacht besitzt indes noch eine andere Spezifik, die ebenfalls etwas mit dem Hintergrund der Täter zu tun hat. Zu Recht wurde aus einer linken Position nach Silvester darauf aufmerksam gemacht, dass alle Männerbünde für Frauen – und auch für andere Männer – real gefährlich werden können. Das gilt für die Armee, das Gefängnis, den Mob am Vatertag oder auch für die Fußballfankultur. Aber auch viele geflüchtete Männer, gerade jene aus nordafrikanischen Ländern, werden durch das rassistische Ausländergesetz in Männerbünde gezwungen. Nordrhein-Westfalen, als eines der drei Bundesländer, in die Flüchtlinge aus dem Maghreb verteilt werden, besitzt eine Vielzahl von Zwangsunterkünften, die zu Orten frustrierter, subalternisierter Männergruppen werden, in denen auch affektives und sexuelles Elend herrscht. Für diese Männer ist es schwer, jemanden kennenzulernen, sie dürfen nicht arbeiten, können niemandem ein Bier ausgeben, haben kein eigenes Zimmer, wo sie jemanden mit nach Hause nehmen können, und gelten daher auf dem Markt der sexuellen oder romantischen Möglichkeiten als unattraktiv. Dieses sexuelle Elend ist politisch gewollt und behördlich gemacht. Um es aufzuheben, muss man diese Männer mit mehr und nicht mit weniger Rechten ausstatten: Recht auf dezentrales Wohnen, Recht auf Arbeit, Recht auf Ausbildung, Recht auf Partizipation an den Reichtumsströmen; und das Recht auf Familiennachzug. Unter den Bedingungen des erzwungenen Männerbundes gibt es kaum Empathie oder Zärtlichkeit. Im Gegensatz zur Bundeswehr oder dem Fußballverein haben sich diese Männer diese Situation allerdings nicht selber ausgesucht. Nicht nur im Zeichen von Humanität, sondern auch im Sinne einer Gewaltprävention sind mehr Rechte für Migranten und Migrantinnen Teil der Lösung des Problems. Das Gegenteil wird jedoch allenthalben diskutiert und durchgesetzt: Der Familiennachzug wird erschwert, die Rechte von Geflüchteten werden weiter eingeschränkt, und die Residenzpflicht wird verschärft oder wieder neu eingeführt. So werden die Probleme geschaffen, die vorgeblich bekämpft werden sollen – eine No-win-Situation außer für jene, die an dem rassistischen Konflikt interessiert sind, und das sind – wie wir nicht erst seit den letzten Landtagswahlen wissen – zurzeit nicht wenige.

Mit dieser Kritik ist es natürlich nicht getan – und zu Recht beanstanden viele Frauen, dass alle nur über die Täter redeten, nicht aber über die Opfer der Silvesternacht – die Frauen. So legten viele feministische Initiativen ihren Fokus auf die Stärkung von Rechten für Frauen – vor allem die rechtliche Absicherung ihrer sexuellen Autonomie, etwa durch eine Verschärfung des Strafgesetzes bei sexueller Gewalt und Übergriffen. Und tatsächlich eröffnete sich plötzlich eine Chance, der alten Forderung der Frauenbewegung nach mehr Schutzrechten Gehör zu verschaffen. Dies konnte gelingen, weil die feministischen Forderungen durch die gut geölten rassistischen Kommunikationskanäle in die breite Öffentlichkeit transportiert und dort auch wahrgenommen wurden. Dieses Dilemma war nicht aufzulösen. Was blieb, war, die Aussage, gegen Rassismus zu sein, mit an diese Forderungen zu heften und sich nicht für die falschen Zwecke einspannen lassen zu wollen. #ausnahmslos hatte es klug vorgemacht, aber auch alle feministischen Demonstrationen, die es in Köln gab, haben sich deutlich und zuvorderst von Rassismus distanziert und betont, dass alle Sexisten Arschlöcher sind, überall.

Aber auch hier war es nicht so einfach: Ein Transparent auf einer Demo in Köln trug die Aufschrift: „Das Problem heißt Sexismus“ und darunter „Feminismus bleibt antirassistisch“.

Aber es gibt ein Problem in der Geschichte des bürgerlichen Feminismus, und das ist eben der Rassismus. Er markiert mit verschiedenen Konjunkturen die Bruchstelle innerhalb der Frauenrechtsbewegung seit 150 Jahren. Als etwa in den USA Mitte des 19. Jahrhunderts das women‘s suffrage movement geboren wurde, stellten sich die damaligen Aktivistinnen eindeutig auf die Seite der noch unter den Bedingungen der Sklaverei lebenden AfroamerikanerInnen. Es ging um die gemeinsame Befreiung aus der Entrechtung; die Forderung und das Selbstverständnis waren das der Gleichheit aller Menschen. Ende des 19. Jahrhunderts war davon keine Spur mehr zu sehen. Stattdessen schaltete die bürgerliche weiße Frauenrechtsbewegung auf eine absolut nativistische und biologistische Argumentation um und forderte nun das Wahlrecht mit dem Argument, die weiße Rasse vor den vielen neuen ImmigrantInnen und den Schwarzen zu retten. Es war auch die Hochphase der Lynchings, also der massenhaften extralegalen Hinrichtung afroamerikanischer Männer, die mit dem Bild des „Black Rapist“ legitimiert wurde, der die weißen Frauen sexuell bedrohe. Schwarze Feministinnen kämpften dagegen erfolglos an. Der weiße Feminismus nahm über diesen Paradigmenwechsel an Fahrt auf und erkämpfte über die rassistische Argumentation das Frauenwahlrecht in den USA. Dieser Differenzfeminismus, der die politische Relevanz von Frauen über ihre Weiblichkeit und Mütterlichkeit begründete, setzte sich durch.

Ein Feminismus der Einwanderungsgesellschaft

Das Bild des bedrohlichen fremdländischen Mannes gab es auch in Deutschland, etwa in der kurzen kolonialen Phase, aber auch in der Rede von der „Schande am Rhein“ über im Rheinland stationierte alliierte afrikanische Kolonialtruppen nach dem Ersten Weltkrieg, aber auch bei den Gastarbeitern nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland, die einerseits sexuell exotisiert, gleichzeitig aber als sexuelle Bedrohung inszeniert wurden. Der dominante Flügel des Feminismus in Deutschland war in großen Teilen jedoch nicht nur für die Kritik von afroamerikanischen Feministinnen taub, sondern auch für die feministischen Interventionen der europäischen Peripherie, namentlich aus Italien, Frauenrechte nicht zu kulturalisieren und damit zu rassifizieren. Im Gegenteil hat sich aus der bürgerlichen Frauenbewegung mittlerweile ein Feminismus entwickelt, der staatsideologische Formen angenommen hat. So führt man Krieg im Nahen Osten vordergründig nicht mehr für Öl, sondern um die Frauen und Mädchen dort aus dem Patriarchat zu befreien. Und auch in der hiesigen Kopftuchdebatte findet sich jener Diskurs, der die feministischen Errungenschaften hierzulande vor der muslimischen Frauenunterdrückungskultur verteidigen möchte anstatt sich mit den jungen Migrantinnen in ein gemeinsames Verhältnis zu setzen. Gerade der Kopftuchdiskurs zeigt, wie sich ein bestimmter Feminismus über das rassistische Argument verallgemeinert hat. Das Gender-Washing der hiesigen Kultur ist zum Mainstream geworden.

Ein letzte an dieser Stelle zu nennende Schwachstelle in der linken Debatte post-Colonia ist eine fehlende linke Debatte über den national-sozialen Staat, wie ihn der Philosoph Étienne Balibar schon vor über zehn Jahren diskutiert hatte. Dieser konstituiere sich vornehmlich über die Verknüpfung von Staatsbürgerschaft und Nation. Von der Zugehörigkeit zur Nation hänge also der Zugang zu sozialen Rechten ab – Gesundheit, Bildung, politische Partizipation, Wohnen. Balibar stellte auf der Grundlage permanenter und ansteigender Migrationsbewegungen diese hundertjährige sozialdemokratische Vorstellung in Frage, dass der Kampf um die gerechte Verteilung des Reichtums noch weiter in den Koordinaten des Nationalen geführt werden könne. Vielmehr komme es durch die Migration zu einer Infragestellung des nationalen Kollektivs und des in dessen Logik eingelassenen Rechts auf Staatsbürgerschaft. Allein die Hunderttausende Neuangekommener des letzten Jahres zusammen mit den Millionen schon längst Eingewanderter fordern diese nationale Vorstellung heraus und drängen auf andere Antworten der sozialen Frage. Die Ankommenden artikulierten die Botschaft, dass alle Menschen dort ein Recht auf Bürgerrechte haben, wo sie sich aufhalten, und diese Rechte nicht in nationale Staatsbürgerrechte und gewährte Gastrechte aufgeteilt werden können. Die Massivität der Hetze seit 2014 mit ihrer gewaltigen Dynamisierung nach Köln ist auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass das Nationale durch die Faktizität der Migration selbst zur Disposition steht. Eine Linke, die sich indes nicht dazu durchringen kann, sich hier eindeutig zu positionieren, wiederholt die Fehler der 1910er sowie der 1920er Jahre.

Die Antwort auf Köln hieße, wirksamere Rechte für angegriffene Frauen zu fordern und im selben Atemzug gleiche Rechte für diejenigen zu verlangen, die davon ausgeschlossen werden. Dazu gehört auch das Recht der Täter von Köln, nach hiesiger Rechtsprechung angeklagt und verurteilt zu werden statt sie mit Abschiebung zu bedrohen. Letzteres verbietet sich schon aus dem Grund, auch die Frauen in den Herkunftsländern vor sexuellen Gewalttätern zu schützen. Charlotte Wiedemann sprach in diesem Zusammenhang in der taz von der Notwendigkeit, einen Feminismus der Einwanderungsgesellschaft zu entwickeln, der fähig ist, neue Allianzen einzugehen.[2] Diesen mit der sozialen Frage zu verbinden, die den nationalen Rahmen zu überwinden weiß, wäre ein entscheidender Schritt, rassistische Spaltungen zu überwinden und einer zukünftig zu gewinnenden besseren Gesellschaft näher zu kommen.


[1] Vikki Bell: On Speech, Race and Melancholia, Interview with Judith Butler, in: Theory, Culture & Society 1999 16 (2): 163–174, 168.

[2] Charlotte Wiedemann: Auf der Kippe, Debatte Neuer Feminismus, taz online, 23.1.2016, einzusehen unter: www.taz.de/Debatte-Neuer-Feminismus/!5267165/


Angaben zum Autor

Massimo Perinelli arbeitet als Referent für Migration in der Akademie für Politische Bildung der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin. Zuvor war er an der Universität zu Köln als Historiker beschäftigt, wo er zur Körper- und Sexualitätsgeschichte, zur US-Geschichte und zur Geschichte der Migration forschte und lehrte und 2009 zum italienischen Neorealismus promovierte. Seit fast 20 Jahren ist er in dem migrantischen Netzwerk Kanak Attak aktiv und Mitbegründer der Initiative „Keupstraße ist überall“. Mit dem Kollektiv Dostluk Sinemashat er 2014 das Buch „Von Mauerfall bis Nagelbombe. Der NSU-Anschlag im Kontext der Pogrome und Anschläge der neunziger Jahre“ publiziert, in dem eine migrantische Perspektive auf den NSU-Komplex geworfen wird. Zusammen mit Studierenden hat er 2014 den Sammelband „Feminismus in historischer Perspektive. Eine Reaktualisierung“ herausgegeben.