Die Vorstellungskraft als Befreiungsmaschine: Lest feministische Science-Fiction!

von Florian Schmid

Utopien und Dystopien hatten von jeher vor allem in Zeiten von Krisen und sozialen Umbrüchen Hochkonjunktur. So lässt sich auch der aktuelle Science-Fiction-Boom erklären, der seit einigen Jahren im Kino und in den Literaturverlagen zu beobachten ist. Utopische Ansätze spielen in den phantastischen Zukunftsentwürfen aber derzeit kaum eine Rolle, vielmehr werden dystopische Endzeitszenarien durchdekliniert und immer wieder wird angesichts des drohenden Weltuntergangs die Kontrollgesellschaft rationalisiert, männliche Gewalt und Waffenfetischismus inklusive.

Angesichts dieses Mangels an emanzipatorischen Perspektiven lohnt sich ein Blick zurück zum Sci-Fi-Boom der 1970er, in dem es viel mehr um utopische Potentialitäten als um reaktionäre Krisenlösungsentwürfe ging. US-amerikanische Autor_innen wie Joanna Russ (Planet der Frauen), Ursula K. LeGuin (Planet der Habenichtse) und Marge Piercy (Frau am Abgrund der Zeit) setzten Mitte der 1970er mit ihren utopischen Entwürfen aber nicht nur neue Maßstäbe für die Science-Fiction, sondern verhandelten auch feministische Positionen zur Krise. Die damaligen Utopien feministischer Autor_innen standen deutlich unter dem Einfluss der 68er-Bewegung, fielen aber auch in die Zeit der fordistischen Krise und formulierten feministische Positionen zu männlicher Herrschaft, geschlechterspezifischen Zuschreibungen, Lohnarbeit und Reproduktion. Derartige Perspektiven auf dem Buchmarkt erfolgreicher Schriftsteller_innen fehlen weitestgehend in der aktuellen Science-Fiction. Es scheint also nicht ohne Grund, dass die Klassiker der feministischen Science-Fiction wieder rezipiert werden, sei es in Form von Neuauflagen oder deren Theateradaption.

Donna Haraways Cyborg-Manifest von 1985 zählt auch heute noch zur Grundlagenlektüre vieler feministischer Gruppen. Letztlich schrieb Haraway die Themen und Fragestellungen der utopischen feministischen Science-Fiction auf der Theorieebene fort. Dass Science-Fiction ein zentraler Bezugspunkt für Haraways  Cyborg-Manifest wurde, ist also eng an diese literarische Tradition geknüpft. Kybernetische Wesen tummeln sich zwar Ende der 70er und Anfang der 1980er vor allem in Blockbustern wie Blade Runner (Ridley Scott) und Terminator (James Cameron) als Ausdruck männlich dominierter Waffentechnologie. Aber die „Teleologie des Kriegs der Sterne zu untergraben“ ist laut Donna Haraway eine „Verheißung“ des Cyborg-Mythos. Und so setzen eben auch feministische Autor_innen, wie Joanna Russ in Planet der Frauen, auf die im Cyborg-Manifest verwiesen wird, die Verschmelzung von Mensch und Maschine in Szene und lösen spielerisch dichotome Geschlechteridentitäten und biologischen Grenzen auf.
Vor allem Marge Piercys 1976 erschienener Roman Frau am Abgrund der Zeit inspirierte Haraway nach eigenen Angaben zur „blasphemischen, antirassistisch-feministischen Figur“ des Cyborgs. Marge Piercy wiederum schrieb mit Er, sie und es einige Jahre später einen Roman, der eng an Haraways Manifest angelehnt ist. Piercys Hauptfigur in Frau am Abgrund der Zeit ist die zwangspsychiatrisierte Consuela, die in eine Klinik gesperrt Zeitreisen in eine feministisch-utopische Zukunft unternimmt. In Mattapoisett, einer kleinen anarchistischen Kommune, wird nicht nur das Zusammenleben radikal basisdemokratisch organisiert und erfolgreich gentechnisch veränderte Landwirtschaft betrieben, auch die biologische Reproduktionstechnologie ist weiterentwickelt worden: Menschen werden in Brütern geboren, Männer und Frauen verfügen gleichermaßen über die Möglichkeit, Babys zu stillen.

In dieser utopischen Zukunft gibt es aber auch Krieg. Die letzten Kapitalist_innen, zurückgedrängt auf die Polarregion und einige Raumstationen, versuchen ihre militärische Hegemonie zurückzugewinnen. Die Zukunft verändert sich geringfügig bei jeder von Consuelas Reisen. Bis klar wird, dass die libertär-feministische Utopie von Mattapoisett nur Realität werden kann, wenn sich Consuela einer drohenden Operation entzieht. Mit Medikamenten vollgepumpt, wartet sie  Frau auf eine bereits behördlich verordnete Lobotomie. Aus der entmündigten Frau wird so eine handlungsmächtige Akteurin, die im erfolgreichen Widerstand gegen die Zwangspsychiatrisierung und einen drohenden technologischen Eingriff in ihr Gehirn eine utopische Zukunft mitgestaltet.

So sehr kollektiv angeeignete Technologien in der Utopie von Mattapoisett emanzipatorische Perspektiven eröffnen, zeigen die anti-utopischen Gegenpole in Form der militarisierten Kapitalist_innen der Zukunft und der psychiatrischen Gegenwart im 20. Jahrhundert ihre Kehrseite. Donna Haraway betont im Cyborg-Manifest, dass Cyborg-Technologien ebenso zur Herrschaftssicherung wie zu deren Unterwanderung eingesetzt werden können. „Der politische Kampf besteht darin, beide Blickwinkel zugleich einzunehmen, denn beide machen sowohl Herrschaftsverhältnisse als auch Möglichkeiten sichtbar, die aus der jeweils anderen Perspektive unvorstellbar sind“, so Haraway.

Letztlich waren es auch die politischen Kämpfe der 1970er Jahre, die neue Möglichkeiten eröffneten. Piercy ging es in Frau am Abgrund der Zeit darum, den damals aufkommenden Ideen der neuen sozialen Bewegungen „Leben einzuhauchen und sie leuchten zu lassen“, wie sie später in einem Interview sagte. Weitaus dystopischer ist dagegen ihr Roman Er, sie und es von 1990, für den Donna Haraways Cyborg-Manifest „außerordentlich anregend“ war, wie sie im Nachwort schreibt. Das 500-seitige, auf Deutsch lange Zeit vergriffene und antiquarisch im Netz für Unsummen gehandelte Buch erscheint demnächst in einer Neuauflage im Argument-Verlag. Der stark an die Cyberpunk-Literatur der 1980er angelehnte Roman wirkt fast wie eine literarische Adaption von Haraways Essay. Zumal künstlich modifizierte Körper in der hyperkapitalistischen, durch Atomschläge verwüsteten Welt Mitte des 21. Jahrhunderts an der Tagesordnung sind. Staatliche Macht gibt es keine mehr, die Menschen leben in Konzernsiedlungen unter gigantischen Schutzdächern, einige freie Städte existieren neben dem Glop, einem riesigen, von Gangs kontrollierten Slum. Die Softwareentwicklerin Shira lebt in der jüdischen Stadt Tikva, einer kibbuzartigen Siedlung an der Ostküste der früheren USA, wo sie an einem illegalen Projekt mitarbeitet. Dort wird Jod gebaut, ein von Menschen nicht zu unterscheidender Cyborg, der die Stadt vor Angriffen der Konzerne schützen soll.

Erst nach mehreren Versuchen gelingt es, Jod zu bauen – mit einer Programmierung, die ihn zu einem empfindsamen Wesen mit eigener Persönlichkeit macht. Auch wenn Jod ursprünglich als Waffe konzipiert wurde, um im Cyber-Netz oder auch im realen Leben mit seinen außerordentlichen physischen Kräften Konzernangriffe abzuwehren, wird er zu einem weiteren Bewohner der freien Stadt Tikva. Shira geht schließlich sogar eine Liebesbeziehung mit ihm ein. Als die anderen Bewohner_innen Tikvas erfahren, dass Jod ein illegaler künstlicher Organismus ist, wird kontrovers über seinen rechtlichen Status diskutiert. Keine Probleme mit derartigen Statusfragen hat die durch zahlreiche künstliche Modifizierungen mit besonderen Kräften ausgestattete Superkämpferin Nili. Sie kommt aus der atomar verseuchten und völlig zerstörten Zone des ehemaligen Israel, wo ausschließlich Frauen in einem Kollektiv ihr Überleben durch cyborgartig technologisch angepasste Körper sichern.

Die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verschwimmen in Piercys Roman mit fortlaufender Handlung immer mehr. In Er, sie und es droht Technologie als Inwertsetzungspraxis konkurrierender Konzerne – von der Schönheitsoperation bis zur Raumstation als Produktionsstandort –  zum „endgültigen Koordinatensystem der Kontrolle“ zu werden, wie Haraway eine mögliche Entwicklung des Cyborguniversums benennt. Gleichzeitig findet jedoch an mehreren utopischen Orten eine kollektive Aneignung von Technologie statt, um emanzipatorischen Projekten eine Perspektive zu bieten: in der kibbuzartigen Stadt Tikva mit ihren selbstorganisierten Softwareexpert_innen, im kämpferischen Frauenkollektiv in der atomar verseuchten Zone im Nahen Osten. Aber auch im Slum Glop wird gegen Ende des Buches ein basisgewerkschaftlicher Aufstand organisiert, der mithilfe eines neuen, unabhängigen Cyber-Netzes geplant wird. Die Cyborgs als „Abkömmlinge von Militarismus und patriarchalem Kapitalismus“ sind ihrer Herkunft gegenüber nicht besonders loyal, wie Haraway betont. Marge Piercy zeigt eindrucksvoll, wie sich diese Aneignung und „die Notwendigkeit von Solidarität im Kampf gegen die weltweite Intensivierung von Herrschaft“ (Haraway) literarisch in Szene setzen lässt. Denn „die Vorstellungskraft“, so Marge Piercy, „ist eine sehr mächtige Befreiungsmaschinerie.“

Angesichts feministischer Analysen aktueller und der im Kapitalismus wiederkehrender Krisenphänomene, etwa  der Krise der sozialen Reproduktion, stellen sich direkt oder indirekt die Fragen nach feministischen Entwürfen einer anderen Gesellschaft und einer politischen Praxis, die dorthin führen könnte. Eine Relektüre der feministischen Science-Fiction-Klassiker könnte die Vorstellungskraft in der Tat zu einer mächtigen Befreiungsmaschine werden lassen.

Kurzbiografie

Florian Schmid, Jahrgang 1967, ist Historiker und Literaturwissenschaftler. Er ist aufgewachsen in Niederbayern und lebt seit 1989 in Berlin. Als freier Autor schreibt er unter anderem für „Der Freitag“ und „Neues Deutschland“. Seine Schwerpunktthemen sind Science-Fiction und Soziale Bewegungen.

Dies ist ein Artikel im Rahmen der Debatte „Monströse Versprechen: Technologien zwischen Risiko und emanzipativem Potential“.