von Hans-Joachim Lenz
Geschlechterforschung, Geschlechterpolitik und daraus abgeleitete politische Programme wie Gender Mainstreaming klammern bislang die Wahrnehmung der männlichen Verletzbarkeit aus. Diese Geschlechterdiskurse unterliegen einer asymmetrischen Verzerrung in der Beschreibung beider Geschlechter und vollziehen diese selber oder unterstützen sie zumindest. Eine angemessene geschlechtssensible Wahrnehmung wird unterlaufen durch Geschlechterzuschreibungen, die in traditionell-bürgerlichen Geschlechternormen wurzeln, welche die Geschlechterdiskurse eigentlich dekonstruieren wollen. (Meier-Seethaler spricht von einer „emotionalen Substruktur“, welche den öffentlichen Geschlechterdiskurs untergräbt.)
Seit langer Zeit schon werden in der Frauenbewegung, Frauenforschung und Frauenpolitik Mädchen und Frauen in ihren Widersprüchen und Ambivalenzen gesehen. Jungen und Männer hingegen wurden stereotyp als Objekte von Stärke und Dominanz konstruiert. Weder wurden „die Männer“ sozial differenziert noch fand eine Binnendifferenzierung der männlichen Persönlichkeit statt. Männer wurden als homogene Gruppe und als kongruente Persönlichkeit vorausgesetzt. Erst mit der Karriere des Konzepts der hegemonialen Männlichkeit des australischen Soziologen Robert Connell (1999) begann im Diskurs um Männlichkeit langsam eine Ausdifferenzierung von Männlichkeiten. Sie wird nun pluralisiert.
Trotzdem wird im gegenwärtigen gesellschaftlichen Geschlechterdiskurs und den davon abgeleiteten Diskursen überwiegend von der hegemonialen Männlichkeit als implizitem Maßstab ausgegangen. Als das Konstrukt einer „idealen Männlichkeit“ wird sie nicht in ihren Widersprüchen oder gar ihrer Bedürftigkeit und Verletzbarkeit gesehen, sondern gewissermaßen als starke, d.h. problemlos funktionierende Männlichkeit imaginiert. Diese hat reibungslos die an sie gestellten Erwartungen im Sinne von Leistungsnormen im privaten und öffentlichen Bereich zu erfüllen. Kommt der Mann diesen Erwartungen nicht nach, wird sein Verhalten sanktioniert (z.B. im Scheidungs- und Unterhaltsrecht).
Auch die Männlichkeitsforschung selbst hat bislang keine grundlegende Kritik von Männlichkeit entwickelt; vielmehr reproduziert sie weitgehend das vorherrschende Verständnis von Männlichkeit(en). Der nicht-hegemoniale Mann ist insbesondere hinsichtlich seiner Bedürftigkeit bislang kaum im Blick der Forschenden.
Beide Geschlechter werden also unterschiedlich konstruiert. Die Diskurse um Geschlecht verdecken und verbergen mithin mehr, als dass sie aufdecken. In Anlehnung an Bourdieu geht es um die Verdeckung der männlichen Verletzbarkeit in Geschlechterverhältnissen. Die zentrale Frage ist: Was geschieht in der bestehenden Geschlechterordnung mit der männlichen Verletzbarkeit?
Die Verleugnung der männlichen Verletzbarkeit steht im Gegensatz zur Entwicklung der frühen Frauenforschung und -bewegung, wo die weibliche Verletzbarkeit und Gewalt gegen Mädchen und Frauen der zentrale Ansatzpunkt für eine Sensibilisierung im Hinblick auf Geschlechtlichkeit war.
Menschen gleich welchen Geschlechts sind gleich verletzbar. Frauen und Männer, Jungen und Mädchen sind in ihrer Verletzbarkeit gleichwertig. Aus dieser Tatsache ergibt sich die Notwendigkeit einer integrierenden Sichtweise auf die Schutzbedürfnisse beider Geschlechter.
Diskussionen, ob Frauen genauso gewalttätig sind wie Männer oder ob sie das x % mehr oder weniger sind, sind daher völlig abwegig. Das Schutzbedürfnis beider Geschlechter gilt uneingeschränkt und lässt sich nicht in Zahlen quantifizieren. Als in den 1970er Jahren die ersten Berichte über Gewalt gegen Frauen und sexuelle Übergriffe gegen Mädchen in die Öffentlichkeit gelangten, reichte jeder singuläre Fall, um den Skandal aufzuzeigen. Dreißig Jahre lang (bis 2004) gab es im Feld von „Gewalt und Geschlecht“ keine repräsentativen Zahlen. Da zunächst einmal die Qualität der Phänomene sichtbar gemacht werden musste, galt die Quantität letztlich als nebensächlich. Das ist beim Sichtbarmachen der gegen Jungen und Männer gerichteten Gewalt nicht anders. Durch die kulturelle Ignoranz gegenüber der männlichen Verletzbarkeit bleiben nach wie vor die meisten Übergriffe und Gewalttaten gegen Jungen und Männer, insbesondere die schambesetzten, verborgen. Der aktuelle Wissens- und Handlungsstand hinkt hier etwa zwanzig Jahre dem Wissens- und Handlungsstand der Gewalt gegen Frauen hinterher.
Die Empörung, die über Männerrechtler hereinbricht, entbehrt nicht einer gewissen Heuchelei. Erst ihre stärkere strategisch-öffentliche Präsenz führt dazu, dass sich Männer im Umfeld der Grünen nun trauen, ebenfalls öffentlich mit ihren Emanzipationsforderungen in Erscheinung zu treten (siehe Grünes Männermanifest). Ausgeblendet wird dabei, dass Männer, die dem grün-linken Milieu zuzuordnen sind, im Geschlechterdiskurs eine paternalistisch-gewährende Haltung gepflegt haben und noch pflegen, die Männlichkeit – und damit sich selbst als politischen Mann – nicht einbezieht. Joschka Fischer erscheint als Gallionsfigur dieses machtorientierten Männertypus.
Bei Männern, die dem grünen und linken Milieu zuordenbar sind, fällt zudem auf, dass sie sich tendenziell entschuldigen, ein Mann zu sein. Dies wirkt so, als hätten sie ein schlechtes Gewissen und würden sich selbst verantwortlich machen für die jahrtausendealte Tradition des Patriarchats.
Dem stehen traditionell Orientierte gegenüber, die eher in den Geschlechterkampf ziehen, indem sie die Gewalt gegen Männer scheinbar aufgreifen, diese zum Teil populistisch instrumentalisieren und für Zwecke der Geschlechterrevanche missbrauchen. Dabei bleiben sie (unbewusst) an Frauen gebunden und blenden die Gewalt, der Männer mehrheitlich durch andere Männer ausgesetzt sind, und das daraus sich ergebende Schutzbedürfnis völlig aus.
Von beiden Positionen wird die Geschlechterordnung, welche die männliche Verletzbarkeit ignoriert, nicht infrage gestellt. Deren Wahrnehmung scheint für den individuellen Mann (und die meisten Frauen) außerordentlich bedrohlich und verbunden mit der Angst vor der eigenen Ohnmacht.
In der Debatte ist eines gewiss: Alle Akteure sind in die herrschenden Geschlechterkonstrukte verstrickt. Hierarchie und Macht in den Geschlechterverhältnissen werden weniger aufgedeckt als verdeckt und ein nachhaltiger Wandel von Männlichkeit wenig bis gar nicht unterstützt.
Die Arrangements der früheren Frauenpolitik mit der herrschenden Männlichkeit (trotz bzw. wegen der Patriarchatskritik) und der damit einhergehenden strategischen Diskriminierung von nicht-hegemonialen heterosexuellen Männern führt zum blinden Fleck des Geschlechterdiskurses: der verletzte Mann. Die (verborgene) Gewalt gegen Jungen und Männer stellt nämlich einen entscheidenden Faktor dar, der geschlechtshierarchische Strukturen aufrechterhält und somit insgesamt die Entwicklung zu einer Gesellschaft der Gleichwertigkeit und Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern behindert.
Die Verletzbarkeit von Männern und deren Verleugnung als soziales Problem in den Gleichstellungsdiskurs aufzunehmen, ist längst überfällig. Ein Diskurs der Gleichwertigkeit beider Geschlechter steht an.
Hans-Joachim Lenz ist Sozialwissenschaftler, betreibt bei Freiburg i. Br. ein Büro für Beratung, Bildung und Forschung: „Forsche Männer & Frauen“, und ist Lehrbeauftragter für Männlichkeitsforschung an der Universität Freiburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Männerbildung, Männergesundheit, Männerforschung, zu männlichen Gewalterfahrungen und zur Neugestaltung der Geschlechterverhältnisse. Näheres: www.geschlechterforschung.net